GRAN PARADISO
1997 Neue Messe München

Im Sprachgebrauch der Stadtplaner und Gestatter öffentlicher Räume fungiert das Adjektiv >identitätsstiftend< als immer wiederkehrende Beschwörungsformel, die mit Vorliebe in Ausschreibungen und Wettbewerbstexten ihre apellative Anwendung findet. Blick von untenZumindest das Verlangen nach >Identität< scheint gegenwärtig groß zu sein.Doch gewöhnlich geht die Beschwörung über das Verlangen nicht hinaus. So ist der Gebrauch des Begriffs äußerst emphatisch, sein Inhalt jedoch um so unbestimmter. Näher betrachtet erweist er sich als Leerformel, die, speziell im architektonischen Zusammenhang, vage und in Abgrenzung zu den Abstraktionen des internationalen Stils auf Individuation besteht und eine wie auch immer geartete Sehnsucht nach Heimat impliziert.
Das Positive der Zauberformel >identitätsstiftend< besteht darin, daß sie im Sinne konstruktivistischer Einsichten gesellschaftliche Entitäten nicht als gegeben, sondern als konstruiert erachtet. Sie schweigt sich allerdings darüber aus, wie die Verknüpfung von Ort und sozialer Entität zu leisten ist. Offensichtlich spuken im Hintergrund Modelle einer Art gesellschaftlicher >corporate identity< herum, so als seien die Bewohner und Benützer eines Ortes Teil einer Firma, der es nur noch am entsprechenden Erscheinungsbild fehlt. Sie schweigt sich ebenso darüber aus, wessen Identität gemeint ist und wie sich heute personale und soziale Identität definieren läßt. Ohne der postmodernen Idiologie von der Multiidentität zu verfallen: Die Identität des Einzelnen ist extrem vermittelt und hochkomplex geworden und hat längst die Bezüge zum Ort hinter sich gelassen.
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