Blick von unten

ROTWAND: DIAPHAN
1996 München Lenbachhaus
Treppenhaus zu den Lenbachräumen Ständige Sammlung

Blick von untenStephan Hubers bildnerische Qualitäten scheinen sich dort am stärksten entfalten zu können, wo der gegebene Raum nahezu keinen Platz für Ausschweifungen und »Spielereien« zuläßt. Das Treppenhaus im Mitteltrakt der Lenbachschen Villa, ein längsrechteckiger, eher als schmal zu bezeichnender aber relativ hoher, drei Etagen übergreifender Raum, war der gegebene Ort für Rotwand diaphan. Eine Steintreppe mit weiß gestrichenem Metattgeländer läßt eine Öffnung frei, die den Blick durch die Geschosse erlaubt. Dieses Stiegenhaus führte ursprüngtich vom Eingang, vorbei an den Prunkräumen des Piano nobile, hinauf zu den Wohn- und Schlafräumen Lenbachs. Während die Säle in der ersten Etage noch von der Ausstattungspracht Lenbachscher Vorstellung zeugen, erscheinen die Räume im obersten Geschoß ebenso wie das Treppenhaus selbst nüchtern. Sie sind von der Sparsamkeit und Solidität der fünfziger Jahre geprägt, als man daran ging, die Kriegsschäden an der Villa zu beheben. Das Treppenhaus verbindet damit nicht nur unterschiedliche Stockwerke miteinander, sondern auch die verschiedenen historischen wie ästhetischen Ebenen des Hauses.

Hubers Eingriff an diesem Ort zielt auf weitgehendes Belassen der vorgefundenen Situation und ist zugleich von monumentaler Qualität. Eine Mauer aus Ziegelsteinen über alte Stockwerke sowie ein Eichenparkett sind die bildplastischen Mittel, mit denen Stephan Huber hier arbeitet. Allerdings durchbricht der Künstler mit seinen Eingriffen unsere Erfahrung und sorgt so für Überraschung und Staunen. Den Parkettboden finden wir nicht unten, sondern an der Decke; die Mauer nicht als etwas Aufgeschichtetes sondern in die Tiefe hängend. An vielen Stahlseiten aufgehängt »fällt« das Mauerwerk in der Treppenöffnung nach unten oder schwebt - von unten gesehen - »magisch« über dem Grund. Unsere Sinne, von der Erfahrung der Anziehungskraft der Erde elementar geprägt, werden angespannt, verängstigt, erstaunt, neugierig, jedenfalls in eine Form von Aufregung versetzt, wenn sie diesem Raumbild zuerst begegnen. Leises, vibrierendes Schwanken läßt die Mauer noch geheimnisvoller und bedrohlicher erscheinen. Im Treppenanstieg erfährt der Betrachter rasch die Konstruktion dieser unheimtichen Wand. Stein für Stein ist an den Stahlseilen aufgehängt und fixiert. Die Seile ziehen durch die Öffnungen der perforierten Ziegel. Versetzt wie in einem normalen Mauerverbund haben die Backsteine auch den üblicheri Lagenabstand. Da ohne Mörtel gearbeitet wurde, öffnet sich die Wand, läßt Durchblicke durch die Schlitze und erscheint so als ein »Gewebe aus Stein«, beweglich und diaphan.

Anstelle von Massivität, Solidität, Dauer und »Ordnung« vermittelt diese Wand das Gefühl von Schwanken, Unsicherheit und Bewegung. Was wir von einem Mauerwerk erwarten, wird nicht eingelöst. Als Wand teilt diese hängende Mauer den Treppendurchblick und macht ihn eng; als perforierte Mauer, als Vorhang von der Decke (vom Parkettboden) hängend, verbindet dieses plastische Bild die getrennten Raumhälften verstärkt, macht auf unterschiedliche Situationen aufmerksam.
Wir wissen, wie ein Fußboden und wie ein Plafond aussieht, und reagieren entsprechend verwundert, wenn wir alles auf den Kopf gestellt finden. Huber verwendet als »Boden-Decke« aber kein beliebiges Parkett, sondern ein altes, genarbtes, das Spuren von Leben trägt; also eines, auf dem Menschen gelaufen sind, wodurch das Ganze noch verwunderlicher wird. Bereits 1982/83, als Stephan Huber in der Installation Ich liebe dich für die Ausstellung »Aktuell '83« im Lenbachhaus arbeitete, verwendete er diese alten Eichenriemen, die im Keller des Hauses gelagert waren (S. 124).

Bei aller Extremität und Ungewohntheit, die in dieser Arbeit angelegt ist, hat sie zugleich auch etwas verblüffend Normales. Dem Staunen begegnet fast im gleichen Moment ein Vertrauen ins »Normale«. Es handelt sich um so einfache Elemente wie Mauer und Fußboden, Dinge, die wir alle schon oft gesehen haben, die wir kennen, die uns nichts weiter bedeuten, mit dem einzigen Unterschied, daß wir sie so noch nicht gesehen haben.

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