NZZ Neue Zürcher Zeitung International vom 11.3.2002

„Abgründe,  Stephan Huber in München“

Man sieht den Raum vor lauter Türen nicht. Im Münchner Lenbachhaus hat Stephan Huber an allen möglichen und unmöglichen Stellen Türen eingezogen. Es ist, als stehe man wie Alice im Wunderland vor jeder Tür neu vor der Entscheidung, sich mit Haut und Haaren auf ein abgründiges und irrwitziges Phantasma einzulassen. Vorab lässt sich unmöglich erraten, was sich hinter den vielen normal dimensionierten, gigantesken oder auch winzigen Türen verbirgt. Und manche bleiben uns auch verschlossen, scheinen sich wie dunkle Geheimkammern der Seele kategorisch gegen einen Zutritt zu sperren. Kann sein, dass man gleich den grossen Wurf macht und in eine edelstählerne Kammer mit einem lauthals vor sich hin pochenden Herzen gerät. So hört sich vermutlich der Rhythmus rasender Leidenschaft an. Genauso gut ist es aber auch möglich, in die Falle eines bösen Beziehungszwists zu tappen. Hinter dem zentralen Portal lauert dann der immer noch stärkste Terrorakt Hubers. „Ich liebe dich“ heisst das re-inszenierte audiovisuelle Drama von 1983, in dem mit der Schwerkraft die hierarchische Ordnung der Dinge gerade kollabiert ist: Hoch an die Wand gerutscht der Parkettboden, zu Boden gegangen die Stuckdecke, verquer die Position des Sitzmobiliars. Ein Charles-Eames-Sessel und ein Empirestuhl sind im scheinbar prototypischen Mann-Frau-Streit befangen. Das Scheitern der Bourgeoisie scheint mit dem Huber’schen Aufstand der saturierten Wohnwelt endgültig besiegelt.
Dass er aus einem grossbürgerlichen Elternhaus kommt, konnte Stephan Huber (geboren 1952) in seinen Arbeiten bislang ebenso wenig verhehlen wie das masochistische Leiden an seiner Allgäuer Heimat. Patriarchale Muster und Begriffe des Erhabenen erfahren in den begehbaren Bühnenräumen eine radikal subjektivistische Wendung. Im allerorten auftauchenden Inbild des Berges verkürzt Huber das Kollektivtrauma einer übermächtigen Naturgewalt auf gipserne Attrappen. Beim Öffnen einer in die Wand eingelassenen Klappe wird man schliesslich gewahr, wir eine herbeirollende Lawine unter ohrenbetäubendem Lärm ein Haus zertrümmert. In Form von Feuersbrunst und Flutwellen ziehen noch weitere Menschheitsplagen auf. Kaum dass man den Haltegriff zu den Videoschaukästen losgelassen hat, donnert die Klappe wieder lautstark ins Schloss. Stephan Huber scheut selbst Psychothrillereffekte nicht, um zu überwältigen. Seine Raumdramaturgie hat das postmoderne Zitierpathos und den neobarocken Formenbombast der achtziger Jahre souverän aufgesogen. Ihm gelingt zudem immer wieder der Drahtseilakt, seinen ureigensten Befindlichkeitskult in eine überindividuell gültige Sprache zu geisseln.

Birgit Sonna


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