Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 87 vom 12.4.2001
“Unter den Alpen gesungen
Zwischen Tür und Berg schlägt ein Herz: Stephan Huber im Kunstverein Hannover“

Es ist eine einfach Tatsache, die den Erfolg von Stephan Hubers Ausstellung „7.5 Zi-Whg. f. Künstler, 49 J.“ im Kunstverein Hannover garantiert. Einige Türen bleiben verschlossen. Nicht etwa, weil es der Willkür des Künstlers zu verdanken wäre, dass sich nicht alle großen, kleinen und kleinsten Türen öffnen lassen, der Besucher also vergebens auf die Klinke drückt und an ihr rüttelt. Sondern weil das Verborgene notwendig Teil der Kunst Hubers – und darüber hinaus jeder Form von Wahrnehmung – ist. Nur weil wir vieles, ja das meiste nicht sehen, sehen wir überhaupt etwas. Die Tür markiert dabei die Passage, den prekären Ort des Übergangs und die Grenze zwischen Sicherheit und Bedrohung. Etwa wenn die Hausfrau im Grimmschen Märchen „Der Frieder und das Katherlieschen“ die Tür kurzerhand mitschleppt, weil Gold aus dem Stall gestohlen wurde und die Tür nicht ohne Aufsicht bleiben darf. Oder wenn in August Strindbergs „Traumspiel“ nach langem Hin und Her eine Tür mit eingesägtem Kleeblatt geöffnet wird und sich dahinter einfach „nichts“ befindet.
In der „Lobby“ von Hubers Wohnung trifft man gleich auf vier über eine Wand verteilte Türen unterschiedlicher Größe. Weiße Ausgänge aus der weißen Zelle. Nur eine steht einen Spalt weit offen. Durch diese fällt der Blick in einen Raum, der Kopf steht. Decke unten, Parkett oben. Andere Türen, werden sie geöffnet, führen in ein Innen, in dem sich ein Außen verbirgt, das nun donnernd hereinbricht. Drei kleine Klappen, wie sie gewöhnlich vor ein praktisches Fach in der Wand oder einen hässlichen Sicherungskasten gesetzt werden, sind es in „Shit happens“. Ohrenbetäubender Lärm schlägt dem entgegen, der sie neugierig aufzieht – und Bilder von Katastrophen. Hinter einer Tür wird prasselnd ein Haus von Feuer verzehrt, hinter einer zweiten von der grollenden Wucht einer Lawine hinweggefegt, hinter einer dritten von tosenden Wassern fortgespült. Wird die Tür geschlossen – herrscht augenblicklich wieder Ruhe.
Es ist eine bürgerliche Wohnung, die Stephan Huber, Künstler, 49 Jahre alt, in Hannover bezogen hat. Wie sieht er aus, dieser Haushalt der Seele? Wie ist die Heimstätte eingerichtet? Was bevölkert ihre Ecken, Winkel, Kammern? Auffällig hat der Bewohner gleich im ersten Zimmer einen Anzug an den Nagel gehängt, der mit einer Menge „Labels“ bestickt ist – ganz so, als müsse das mit allerlei offiziellen Namen ausstaffierte Ich vor dem Eintritt in die eigene Innenwelt seine zweite Haut abstreifen. Daneben ein ganzes Rudel von Koffern und Werkzeugkisten, das unter einem riesigen Männerhut hervorkriecht – „Arbeiten im Reichtum Nr. 7“ von 1983. Befinden wir uns im Kinderzimmer? Müssen wir unter dieser „Ich-Kuppel“ erst wieder klein werden, um die Einbildungen und Phantasmagorien wahrnehmen und auf den Donnerton hören zu können, die auf uns warten? Oder ist der Künstler nur ein komischer Kauz mit einem großen Kopf, der alle seine Werkzeugkisten unter einen Hut bringen will?
“Viel Fotografien eines Hauses mit Fenstern zum Süden“ betitelt Huber ganz selbstverständlich nach Stanley Kubricks definitivem Horrorfilm „Shining“. Sichtbar wird auf diesen das Modell eines hübschen Fünfziger-Jahre-Domizils, dem ein Eisabbruch in einer Polarwüste gefährlich nahegerückt ist. Mit seiner fensterlosen Nordseite schottet sich das Gehäuse gegen die herannahende Katastrophe ab, wogegen seine Südseite aus vielen Fenstern zur Sonne blickt. Ein widersprüchliches Bild, voll von Kindheit und Zuversicht, aber auch von Gefahr und deren Verdrängung ist Huber hier gelungen. Denn so nahe sie auch sein mögen, das Kind kennt die Katastrophen noch nicht, die auf es warten. Und doch sind sie da, nagen schon am sicheren Terrain. Eine Welt am Abgrund, die – fast heiter – diesem einfach den Rücken kehrt.
Durch eine weitere Tür – eine für Zwerge – gelangt man in eine edelstahlkühle Kammer. In der Wand, in einer beleuchteten Vitrine, schlägt ein Herz. Eine Pumpstation der Phantasie. „Saussures Herz (Versorgungsraum)“ nennt Huber das Werk. Und erst wenn wir als Riesen auf der anderen Seite aus der Herzkammer heraustreten und uns umwenden, sehen wir über drei kleine Türen das unergründliche Felsgebirge. Eiger. Mönch. Jungfrau. Ein strahlend weißer Aufstiegsgesang. Vollkommene Unwirklichkeit. Wenn Naturkatastrophen uns aus Türen entgegenschlagen, die wir selbst öffnen, so kehrt die erhabene Natur allein im gipsweißen Modell zurück. Nur als Bild ist sie noch präsent. Aber wessen Herz hält sie am Leben? Das von Horace Bénédict Saussure, dem Naturforscher und Montblanc-Besteiger oder das seines Urenkels Ferdinand Saussure, dem Sprachforscher und Zeichentheoretiker? Unter den Alpen, im monotonen Gesang eines Herzens, sind beide vereint – Natur, und Sprachforscher, Ding und Zeichen, Natur und Bild. „Lehren die Berge/Heilige Gesetze dich, und was noch jetzt uns/Vielerfahrenen offenbar der große/Vater werden heißt, du darfst es allein uns/Helle verkünden“, heißt es bei Hölderlin. In ihrer Komprimiertheit haben Hubers Werke etwas Lyrisches. Auch sie schichten Dimensionen.
Huber, dessen Werke Theatralik und Pathos seit je nicht gescheut, der Verlockung, sich im neobarocken Effekt zu verlieren, aber stets widerstanden haben, bestimmt die Verhältnisse neu – in der Zeit, im Raum, im Kopf und in der Seele. Das Parkett, auf dem er tanzt, hängt an der Decke, und so fürchtet man gelegentlich, es könne einem ergehen wie Büchners „Lenz“, der bei seinem Gang durchs Gebirg zwar keine Müdigkeit spürte, dem es aber manchmal unangenehm war, „dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte“. Irgendetwas steht in Hubers Gehäuse immer kopf, und genau das ist in Ordnung. Widersprüchliches fügen seine Arbeiten im Raum oder auf der Fläche zu Echoräumen zusammen, in denen Verdrängtes, Eingebildetes, Geahntes und Geträumtes nachklingt. Seine Räume behaupten Solidität und Normalität bürgerlichen Lebens, kippen, aber zugleich ins Psychotische, Verrückte, Abnorme.
So geraten auch die Karten der Innenwelt aus den Fugen. „Das Labyrinth in meinem Kopf, dargestellt am Glanz & Elend des XX. Jahrhunderts anhand von Kartografie als Projekt im Fortgang“ nennt Huber sein etwas ins Monströse entgleitendes Werk. Auch in der Übertreibung gibt sich der Künstler barock: die Welt als Ornament und Kartenteppich. Am Meer des trockenen Determinismus liegt die Nietzsche-City, gleich hinter dem Widerspiegelungsland auf der „Gesperrten Zone 19. Jht.“ Nagoya befindet sich mitten in München, und der riesige rote Fleck – St. Petersburg – hat Pilsen, Tokio, Yokohama und vieles mehr verschlungen und endet am „Happiness-is-a-warm-gun-beach“. Das ganze Arno-Schmidt-Areal ist gebildet aus Kopffragmenten und Organteilen, und zwischen „Klingelhöller-Pynchon-Sund“ und dem „Die-Welt-ist-alles-was-der-Fall-ist-Meer“ liegt eine große Insel. Gleich gegenüber stößt man auf West- und Ostallgäu mit Mailand, Florenz und Eistobel, mit den Städten Indiffernzia und Hinweis, Appenzell und Wolldecke. Das Reale hat ausgedient. Kartographiert werden Allegorien. Abraum des Geistes. Mit den Karten aber vermehren sich die Räume und die Zeiten. Der Betrachter wird zum Gefangenen einer transparenten Harmonie. Oder er steht vor einer verschlossenen Tür. Soll er sie öffnen?

Thomas Wagner


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