Süddeutsche Zeitung vom 4.1.2006, Feuilleton,
Sieg der Technokraten
Über das Ende der Kunsterziehung“
Von Stephan Huber

Kürzlich wurde bekannt, dass Kunst- und Musiklehrer an bayrischen Gymnasien ihr Fach zukünftig nicht mehr ausschließlich, sondern nur noch in Verbindung mit einem anderen Hauptfach lehren dürfen. Dies ist in den meisten anderen Bundesländern bereits der Fall. Bayern wird nun nachziehen. Ein normaler, lange überfälliger Vorgang, betont das bayrische Kultusministerium. Der durch seinen Auftritt bei der Documenta 8 und durch mehrere Biennale-Teilnahmen ausgewiesene Bildhauer Stephan Huber, der an der Münchner Kunstakademie lehrt, sieht darin jedoch eine dramatische Entwicklung, die die Freiheit der Kunst und am Ende auch den gesellschaftlichen Konsens gefährdet.

Es geht nicht nur um eine bildungspolitische Marginalie. Vielmehr erwartet uns ein eminenter Einschnitt, der die Kurzsichtigkeit, die Konditionierungssucht und die Krise in den Reihen politischer Entscheidungsträger zeigt. Für die Münchner Kunstakademie, hier beispielhaft behandelt, bedeutet die Entscheidung des bayrischen Kultusministeriums, dass auf längere Sicht die Kunsterzieherausbildung aus Kostengründen an Universitäten ausgelagert werden könnte. Parallel zu der geplanten Studiengebühr – die Rede ist von 500 Euro pro Semester – und der vorgesehenen Einführung des Bachelor of Arts, einem Punktesystem, das die künstlerische Arbeit bürokratisiert, würde sich die Studentenzahl drastisch vermindern. Das Ergebnis wäre die Schwächung eines funktionierenden kulturellen Milieus.
Doch dieses Milieu ist kein alternatives Biotop, sondern ein lebendiges Konglomerat, in dem die Hoffnungen und Ängste, das intellektuelle Vermögen und die momentane Beschaffenheit einer Gesellschaft, ästhetisch-anschaulich in Form gebracht werden. Obwohl ich an der Münchner Akademie eine freie Klasse unterrichte, habe ich immer gegenseitige Abhängigkeiten zwischen Kunsterziehung und freier Kunst gesehen. Dafür spricht auch, dass die Kunsterzieherlehrstühle durch renommierte Künstler besetzt sind: Stefan Dillemuth, Albert Hien, Res Ingold und Matthias Wähner. Aus den Reihen dieser Kunsterzieher sind einige weithin beachtete Münchner Künstler hervorgegangen.
Mit dem Abwandern der Kunsterzieher sind auch die Theorielehrstühle, eine wesentliche Stütze der Akademie und eine Conditio sine qua non für die Kunsterzieherexamina, in Gefahr. Diese massive Verschlechterung der künstlerisch-ästhetischen Bildung und Lehre muss, gekoppelt mit der Einführung des G-8 Models an bayerischen Gymnasien, in einem größeren Kontext gesehen werden.
Dazu ein Rückblick auf das Jahr 1971 im Allgäu: Mein damaliger Kunsterzieher hat meine Schulzeit und damit mein Abitur „gerettet“. Er und sein Fach haben mir Eigensinn und Menschlichkeit (heute nennt man das „soziale Kompetenz“) vermittelt. In den musischen Fächern wurde die Fähigkeit zur Selektion der Interessen gelehrt, dazu Unabhängigkeit, Freiheit im Ausdruck und mitteilenswerte Erfahrung, drei Begriffe, die für Adorno Voraussetzung jeder Kommunikation sind. Aus den musischen Fächern entsprangen die Utopien, die Intuition und der Widerspruch.
Mein früherer Kunsterzieher nutzte die Freiheiten seines Fachs, um die Schüler in Bann zu ziehen. Er vermittelte uns, Kunst generalistisch als Exzerpt einer ganzen Gesellschaft zu sehen. Das war kein Allgäuer Sonderfall. Die Schulen konnten damals die Sonderpositionen von Kunsterziehern und Musiklehrern aushalten, trotz der von unserer Generation viel gescholtenen repressiven Strukturen. Dies hatte Folgen: Nicht wenige aus meiner Generation stellten und stellen kulturelle Leitbilder auf. Nicht Daimler-Chrysler, Siemens, Allianz oder die Deutsche Bank prägen die Außensicht auf unser Land, sondern Pina Bausch, Kraftwerk, Jürgen Habermas oder Andreas Gursky.

Die Industrie hat Deutschland stark gemacht, aber die Kultur hat das Land nobilitiert.
Viele Jahre später: Für unsere älteste Tochter haben wir ein Gymnasium ausgesucht, das eine Theatergruppe, einen Chor und ein Orchester besitzt. Ein städtisches Gymnasium, keine Eliteschule. Aufgrund ihres Alters hatte sie das Glück, vom G-8-Modell verschont zu bleiben. Trotzdem besteht ihr musischer Unterricht in diesem Schuljahr aus insgesamt nur zwei Wochenstunden Kunst und Musikunterricht. Nächstes Jahr „darf“ sie sich gar entscheiden zwischen einer Stunde Kunst oder Musikunterricht – deprimierende Realität in einem Bundesland, das von Politikern so gerne als Flagschiff einer großen Kulturnation bezeichnet wird.
Doch der Begriff ist nur mehr rhetorisches Dekor einer technokratischen Strategie: Aufgrund der hysterischen Politikerangst, im globalisierten Wettbewerb nicht bestehen zu können, wird alles, was nicht in den ökonomischen Verwertungskreislauf passt, ad acta gelegt – selbst wenn im Grundgesetz und in der bayrischen Verfassung die künstlerisch-kulturelle Bildung verankert sind.

Kultur als Krankheit

Hier zeigt sich das Totalitäre der technokratischen Umformung einer – zumindest erstrebenswerten – Solidargemeinschaft zur Konkurrenzgesellschaft. In der Heranzüchtung von spezialisierten Denkmaschinen durch das G-8-Modell werden Experiment, Eigentätigkeit und sinnliche Erkenntnis, bisher Leitbilder vernünftiger pädagogischer Entwürfe, aufgelöst zugunsten eines schnellen linearen Outputs, einer Konditionierung für Forschung und Industrie. So werden Schulen und Hochschulen zu Erfüllungsgehilfen industrieller Lobbyisten.
Doch diese Einschnitte betreffen nicht nur das Bildungswesen. Kultur spielt heute nur noch eine störende Rolle: die des fordernden und eingebildeten Kranken. Bund, Länder und Städte ziehen sich aus der Förderung zurück und delegieren sie an Firmen und Mäzene. Deren Engagement ist notwendig, doch Kulturförderung muss zuerst Sache des Staates, der Länder und der Städte sein. Museumsdirektoren, Orchesterchefs und Theaterleiter sind heute mit Akquise ausgelastet, Kulturredaktionen im Rundfunk oder Fernsehen werden halbiert. Die Folge: Für die Auseinandersetzung mit der Kunst bleibt kaum noch Zeit.
Zeit ist aber eine wesentliche Voraussetzung für ästhetische Lehre, kulturelle Bildung und Auseinandersetzung mit Kultur. „Kunst ist ein Gebilde, das durch keinen möglichen Gedanken erfasst wird“, schreibt Manfred Frank. Zeit war der produktive Luxus der früheren Kunsterziehung, aus Zeit entspringt der größte Widerstand gegen auf schnelle Ergebnisse zielende Zweckgerichtetheit.
Wird kulturelle Ausbildung an öffentlichen Schulen eingeschränkt, werden Privatschulen dieses Defizit ausgleichen. Für kulturelle Bildung muss dann bezahlt werden. Da jedoch Kultur den Menschen zivilisiert und ihn eigenständig macht, wird die Schere der Lebensentwürfe größer werden. Hier wird neben sozialen Verwerfungen ein wesentlicher Unterschied zwischen Arm und Reich liegen. Politik, die kulturelle Bildung ökonomischen Ängsten unterwirft, antizipiert Denkstarre: Unsere Gesellschaft wird das kreativ-kritische Reservoir, gesellschaftliche und ökonomische Krisen zu lösen, fehlen. Sie wird sich in petrifiziertem Sicherheitsdenken verheddern.


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