Günter Saree wurde 1940 in Eger, in der damals von den Nazis besetzten Tschechei geboren. 1945 emigrierte die Familie nach Westdeutschland. 1963 hat er geheiratet, aus der Ehe stammen 2 Kinder. Von 1965 bis 1972 wohnte Saree in München. Er schlug sich in verschiedenen Berufen durch, unter anderem als Marktforscher, später als Nachtportier des ehemaligen Kabarett Eve an der Ecke Luisen-/Karlstrasse in München. In der zweiten Hälfte 1972 zog er nach Köln. Er verstarb am 20.3.1972.

Als Künstler war er Autodidakt, bis 1968 hauptsächlich als Maler konstruktivistischer Bilder tätig. Ich kenne diese Bilder nur vom Hörensagen, und habe auch nur wenig Informationen über die Zeit vor 1969. Mein Interesse gilt seinen letzten vier Lebensjahren, mein Interesse gilt seinen konzeptuellen Arbeiten.

Zwischen 1969 und 1973 entstanden ca. 20 Werke, die zu den konsequentesten und zugleich poetischsten der deutschen Konzeptkunst gehören. Diese Werke lassen sich unter zwei Themenkreise subsumieren:
- Präsenz und Auflösung von sprachlichen Begriffen im öffentlichen Raum
und
- Die Thematisierung des Todes.
Das sich „Verflüchtigende“ scheint mir eine mögliche Beschreibung der Saree’schen Arbeitsmethodik.

Sarees konzeptuelle Arbeiten waren im Gegensatz zu den meisten anderen Konzeptkünstlern immateriell: Es gab nahezu keine Relikte und so gut wie keine Literatur. Nur zweimal stellte sich ein größeres Medieninteresse ein: bei der Schließung seines Raumes auf der documenta 5 und nach seinem Tod in Form von sieben Nachrufen in der bundesrepublikanischen Presse. Meines Wissens gab es nach seinem Ableben nur eine einzige, kleine Ausstellung, die ausschließlich aus Fotokopien bestand. Dies war in der Münchner Produzentengalerie 1983. Es folgte eine kleine Besprechung in der Süddeutschen Zeitung.

Ich stieß zum ersten Mal in dem schlampig recherchierten, aber legendären Buch PCA von Walter Aue auf Saree. Dies war 1971 in der Zeit der wasserfallartigen Innovationen, in der Zeit zwischen „when attitudes become form“ von 1969 und der documenta 5 von 1972. Es war der Höhepunkt und zugleich das Ende der Fortschrittshypothesen in der zeitgenössischen Kunst. Saree war mit nur einer Seite in diesem Buch vertreten. Es war sein Projekt MÖGLICH, auf das ich später zu sprechen komme. Intuitiv war es für mich der spannendste Beitrag des Buches. Ich besaß damals als kleiner Kunststudent nicht die intellektuellen Mittel, seine Arbeit einzuordnen: Mir gefiel die Antihaltung zum bürgerlichen Kunstgeschmack, die Radikalität und die Einfachheit. Heute weiß ich, es war mehr:
- Saree lotete die Grenzen der Kunst aus; er konstituierte die reine Idee als Kunstform.
- Sarees beste Arbeiten sind gekennzeichnet durch Immaterialität: Im Moment der Ausführung des Konzeptes lösen sie sich bereits auf.
- Saree verzichtet auf jede mythologische Überfrachtung.
- Saree verzichtet in seinen besten Arbeiten auf die damals gängige politische Kompetenz. Er instrumentalisiert Kunst nicht durch Moral. Er hält den Eigensinn der Kunst gegen die intellektuellen Verwertungszwänge hoch.
- Saree bindet seine Konzepte und damit die Kunst unverrückbar an seine Person.

1971 wird bei Saree Krebs festgestellt. Ihm wird der rechte Hoden entfernt. Diese Information ist wichtig, weil sich mit diesem Einschnitt seine Arbeit radikalisiert und noch fundamentaler an die eigene Person gebunden wird. Das Sterben, der Tod, das Immatrielle erhalten zentrale Bedeutung in seiner weiteren Arbeit. Obwohl er nach der Operation als geheilt galt, wird dieser körperliche Eingriff auch zum mentalen Schnittpunkt. Da ich Saree nicht kannte, rekonstruiere ich dies aus seinem Werk.
Mehrere Personen, die ihn erlebten, erzählen von Gesprächen oder Terminen, während denen sein in einem Formalinglas aufbewahrter Hoden auf dem Tisch stand. Wie eine Warnung angesichts der Vergänglichkeit.

In seinem letzten halben Jahr in Köln wurde er von Freunden aufgenommen. Ende 1972 wurde erneut Krebs festgestellt. Saree sprach davon, daß er alle möglichen Krebsarten in seinem Körper vereine. Er verkaufte sein signiertes Röntgenbild mit Tumor an die Sammlung Speck.

Saree begann auf allen Eröffnungen im Rheinland aufzutauchen – meist mit einem Tonband – und verwickelte sein Gegenüber in ein Gespräch über seinen bevorstehenden Tod. Heute eine schwer nachvollziehbare Vorstellung, da in dem modischen und eleganten Kunstmilieu von 1999 Krankheit und Tod, ebenso wie Armut, mit allen Mitteln – außer als ästhetische Metapher – herausgehalten werden. Radikaler als alle Apologeten des Verdiktes Kunst und Leben verband Saree genau dieses in seiner brutalsten Form, nämlich Kunst und Tod.
Am 20.3.1973 verstarb Saree im Beisein seiner Familie in Köln.

Sarees meiste Aktionen hatten kein Publikum oder ein Zufallspublikum. Von einigen Aktionen hätte die Öffentlichkeit nur über die Presse erfahren können, da die mediale Resonanz jedoch spärlich war, erhielt sein Werk nicht den Zuspruch, den es verdient hätte. Großsprecherische Entertainer mit kleingeistigen Arbeiten, wie z.B. HA Schult, wurden medial bevorzugt behandelt.

Duchamps These, das Kunstwerk erhält erst über das Publikum, d.h. die Rezeption sein Leben, also lebt nicht durch sich selbst, wäre eine Erklärung für die fast vollkommene Auslöschung von Sarees Werk. Da er aus seiner konzeptuellen Phase nahezu kein materielles Werk hinterließ, die wenigen Relikte sich in Privatsammlungen, also in der Nichtöffentlichkeit befinden, entsteht keine Rezeption und im Sinne Duchamps kein Werk. Auf Grund der fehlenden Literatur entwickelte sich kein Diskurs.

Ich habe eine sentimentale Bindung zu Saree, da er zu meiner Initiation als zeitgenössischer Künstler beigetragen hat. Trotz meiner heute unterschiedlichen Arbeitsweise habe ich immer in kleinem Rahmen versucht, sein Werk am Leben zu erhalten.

Nun zu einigen ausgewählten Arbeiten Sarees, alle aus seiner konzeptuellen Arbeitsphase von 1969 bis 1973.

Am 30.12.1969 fand seine Aktion MÖGLICH statt.
Im TEE-Rheinpfeil wird MÖG, die erste Silbe des Wortes „möglich“ von München nach Dortmund transportiert. Saree begleitet das auf einem reservierten Sitzplatz in einer Coop-Tüte verstaute MÖG. Diese Aktion wurde vom damaligen Münchner Aktionsraum unterstützt: Er druckte eine Kopie der Fahrplaninformation mit der darunter stehenden lapidaren Mitteilung, dass in diesem Zug der erste Teil des Wortes MÖGLICH transportiert wird. Saree verteilte diese Information im TEE-Rheinpfeil. Um 17.10 sprach Alfred Nemetschek vom Münchner Aktionsraum die zweite Silbe von MÖGLICH, nämlich LICH in ein Geländer am Sendlinger Tor ein.
Saree wurde in Frankfurt von einem Polizeiaufgebot aus dem Zug geholt; er wurde – im Zuge der damals beginnenden Terroristenhysterie –verdächtigt, eine verschlüsselte politische Botschaft an Reisende weiterzuleiten. Nachdem Saree den verständnislosen Polizisten erklärte, er wolle ZITAT „einen abstrakten Begriff räumlich, zeitlich, durch Bewegung und durch verschiedene Medien trennen“ wurde er freigelassen und konnte verspätet in Dortmund die Silbe MÖG in einem Weiher versenken.

Alles an diesem Werk ist transitorisch, verflüchtigt sich, selbst das kleinste Relikt, das geschriebene MÖG wird im Wasser versenkt. Das Wort selbst deutet schon, wie seine sinnverwandenten Wort „anscheinend“ oder „vielleicht“ auf einen vagen Zustand, auf ein „sowohl als auch“. So löst Saree sein Wort, seine Idee im Moment der Realisierung, im Moment der höchsten Präsenz bereits auf und lässt es verschwinden. Das gesprochene und vagabundierende Wort als Kunstprodukt ist ein Paradoxon: In der auf Dauer ausgerichteten künstlerischen Produktion ist das sich bewegende MÖG und das gesprochene LICH zugleich die Hinterfragung eines klassischen Werkbegriffes.

Am 2.2.1970 um 13.10 Uhr fand die Aktion „Denkleitbalken“ vor dem Bonner Innenministerium statt. Drei – auf eine Höhe von vier Meter verlängerte Stative, mit einem am oberen Ende befestigten einen Meter langen Querstab, wurden vor dem Eingang des Innenministeriums aufgestellt. Günter Saree bezeichnet in einer Skizze den oberen Querstab als Denkleitebene.
Über diese Denkleitebene dachte Saree das Wort IMMER durch das Innenministerium. Die Aktion dauerte Sekunden, danach wurde abgebaut. Zur selben Zeit wurden in Bonn von Freunden 2000 Flugblätter verteilt, mit der einzigen Information, dass gegen 13.10Uhr Günter Saree in Höhe der aufgestellten Denkleitebene das Wort IMMER durch das Innenministerium hindurchdenken wird. Die technische Abwicklung dieses Projektes übernahm ebenfalls der Münchner Aktionsraum.
Auch hier taucht wieder das immateriell, transitorische, sprachliche Abstraktum auf, das ein auf der Stelle befindliches steinernes Gehäuse in Leichtigkeit durchquert. Man denkt unwillkürlich an die Freiheit des Wortes. Bemerkenswert auch die inhaltliche Kollision des von latentem politischen Wechsel geprägtem Innenministerium und dem durchdachten Wort der Ewigkeit und der Dauer. Das Adverb IMMER, das Dauer und Wiederholung ausdrückt, muss letztlich nur einmal durch das Gebäude gedacht werden und damit durchquert IMMER immer das Innenministerium.
Denkleitbalken ist eine eigenartig aus der damaligen Zeit enthobene Aktion, die weder den antiautoritären Gestus von Immendorffs „Mal kurz den Bären reinhalten“, hatte, noch eine politisch-mythologische Metaphorik eines Joseph Beuys besaß.
Mir scheint eher die Idee der Ungebundenheit und der Nichtzweckgerichtetheit der Kunst in diesem Konzept zu stecken, als das in dieser Zeit so gängige Pochen auf politischer Kompetenz. Es ist der schelmische, der arglos aber auch zugleich der elaborierte Gedanke, dass die Kunst sich selbst genug ist und eher dem Leben abgetrotzt, als dem Leben dienend ist.

Sommer 1970
Aktion „IDEE“
Für das Wort/den Begriff IDEE buchte Saree beim Amtlichen Bayrischen Reisebüro eine 14-tägige Pauschalreise nach Mallorca. Die Mutter aller seiner Konzepte, nämlich die Idee erhielt einen reservierten Flugzeugsitz und im Hotel Acapulco Regenerationsmöglichkeit. Die Idee wurde mit Blumenstrauss von der Pressereferentin des ABR an den Flughafen gebracht. Der Kapitän der Condormaschine weigerte sich jedoch, den verschlossenen Umschlag mit der Idee zu befördern.
Durchgängig ist, dass Saree, dem Provokation fern lag, bei fast allen seinen Aktionen Widerstand herausforderte. Durch die Immaterialität seiner Konzepte entstand extreme Verunsicherung in einer auf materielle Verwertung ausgerichteten Gesellschaft. Durch Zuordnung abstrakter Begriffe an Raum und Zeit und der Entnahme aus dem Sinnkontext wird die Kausalität der Sprache als verbindliche soziale Norm gebrochen. Die Beförderung des Immateriellen, des haptisch nicht Fassbaren machte dem Flugzeugkapitän keinen Sinn und alles was keinen Sinn macht, passt nicht in seine Welt des Dienstleistungsgewerbes. Er steht dem feindlich gegenüber. Der gefährlichste Feind ist der, den man nicht sieht, steht in dem kleinen roten Buch von Maotsetung.

Um diese Zeit erfährt Saree von seiner Krebserkrankung. Der rechte Hoden wird ihm entfernt. Dies als tragische Vorbemerkung zu dem nächsten Arbeitsbiespiel:
Im September 1971 gründet Saree mit Albrecht D. und Wolf Vostell das Unabhängigere Olympische Komitee. Weiter eingeladene Personen waren der Freejazzer Peter Brotzmann, der Schriftsteller Allen Ginsbergh, Fug Musiker Tuli Kupferberg, Jean Paul Sartre und der Künstler Jean Toche von Guerilla Art Action Group. Die Zusammensetzung scheint von heute aus betrachtet ein Konglomerat subkultureller Attituden. Verwunderlich ist, dass viele von Sarees Freunden, wie zum Beispiel der Konzeptkünstler und spätere Yello Musiker Dieter Meier nicht eingeladen waren. Von den Eingeladenen erscheint jedoch niemand auf der ersten Pressekonferenz des UNABHÄNGIGEREN OLYMISCHEN KOMITEES im Hotel Bayrischer Hof in München. Dort stellt das Komitee sein Programm vor: So will Wolf Vostell zum Beispiel einen Film drehen über Nervenzusammenbrüche und hysterische Anfälle der Verlierer.
Günter Saree will die olympischen Spiele nicht erst am 26. August, sondern bereits am 22. August beginnen lassen.
Er will sie mit seiner neuen Olympiahymne eröffnen, dazu soll ihm der Münchner Polizeipräsident Schreiber 60 Polizisten zur Verfügung stellen, über deren Aufgabe jedoch keine genaueren Angaben gemacht werden. Die eigentliche Olympiahymne sollte – aus einem in der Mitte des Olympiastadion liegenden monumentalen Lautsprecher – ertönen, nämlich Gelächter. Parallel dazu tritt Saree in die Mitte des Olympiastadions und wirft seinen rechten Hoden im Formalinglas 1,6 Meter in die Höhe. Damit sind die olympischen Spiele eröffnet.

Viele Künstler und Künstlergruppen haben sich 1972 und vorher mit den olympischen Spielen beschäftigt: So wollte unter anderem Jörg Immendorff mit seiner von ihm initiierten Lidlakademie an den olympischen Spielen teilnehmen. Sarees Vorschlag unterscheidet sich jedoch von allen anderen libertinären, anarchistischen und ästhetischen Konzepten, er thematisiert seine Krankheit. So bleibt einem das Lachen im Halse stecken. Das intime Schicksal wird zur öffentlichen Geste, eingebettet in das Spektakel der kraftstrotzenden, gesunden Körper. Der verkrebste Hoden dringt in die Welt der sportlichen Höchstleistungen, die Krankheit wirft einen Schatten auf die Jugend der Welt. Abstrus auch die Maßgabe, nämlich der Wurf von 1.6 Meter Höhe in einer sportlichen Welt von Weiten, Höhen und Geschwindigkeiten. Es gibt einen Briefwechsel über dieses Projekt zwischen dem damaligen NOK Präsidenten Daume und Saree, dessen Verbleib ich aber nicht in Erfahrung bringen konnte. Leider wurden die olympischen Spiele nicht verlegt, leider ist die Olympiahymne immer noch die Alte.

In das selbe Jahr fällt der Briefwechsel mit der bayrischen Staatskanzlei über die Verpachtung eines Luftraumes an Günter Saree über der Landeshauptstadt München. In 611,8 Meter lichter Höhe wollte Saree den Raum des Satzes VOM FREISTAAT BAYERN AN GÜNTER SAREE VERPACHTETER RAUM mieten. Die Buchstabenhöhe und Tiefe sollte jeweils 10 Meter betragen.


Fast ist man geneigt zu sagen, Saree schaffe sich hier ein Grab, ein Raum-und-Zeit-Kontinuum über unseren Köpfen, genauso immatriell wie seine Aktionen. Sarkastisch könnte man sagen: ein Münchner im Himmel.
Inwieweit Saree in der Tradition des Valentinesken steht, obwohl es sich hier um Weissferdl handelt, wäre gesonderte Untersuchung wert. Befreit man Valentin vom touristischen Lokalkolorit und seiner gnadenlos falschen Rezeption, bleibt ein einsamer, von Todesangst geprägter Mensch, der in absoluter Vergessenheit gestorben ist. Die Analogien zu Valentin sind vielschichtig: Ich erinnere an Valentins Foto zu den olympischen Spielen 1936, auf dem er in dem riesigen Rund des Berliner Olympiastadions mutterseelenallein auf der Tribüne sitzt. Der Text unter der Fotografie lautet: NUR EINEN TAG ZU SPÄT UND DENNOCH ZU SPÄT. Der Eine verschiebt die Spiele nach vorn, der Andere nach hinten. Beide beziehen dieses internationale Großereignis radikal auf sich selbst. Beide finden den Eintritt in ihre Arbeit über den anscheinenden Witz, beim Einen bleibt die Krankheit, beim Anderen die Einsamkeit.
Am offensichtlichsten sind die Bezüge Saree-Valentin bei Sarees Vorschlag, die Haltestellenansagen der Münchner Straßenbahnlinien Nr. 8, also dem bereits von Valentin behandelten Sujet, in NACHHER, SPÄTER und VIELLEICHT zu ändern.
Ebenso Sarees Bitte, den Feuilletonteil der SZ-Ausgabe ohne das Wort „ist“ erscheinen zu lassen, d.h. das Konstituierende aufzulösen, zugunsten des Vagen. Auch dies eine Arbeitsmethode von Valentin.

1972 hat Harald Szeemann Saree auf die documenta 5 eingeladen. Saree erhielt einen Raum, direkt im Eingangsbereich, neben Bazon Brocks Besucherschule. Sarees Konzept bestand darin, das ZITAT „wache Bewusstsein des d5 Besuchers für circa 15 Minuten zu unterbrechen, mit einem Todesrisiko von 1:6000“ ZITAT ENDE.
Unter der Obhut eines Anästhesisten sollte der Besucher narkotisiert werden. Saree hätte ihm ein Zertifikat ausgehändigt über wache Lebenszeit minus 15 Minuten. Die Einzelheiten des möglichen Begräbnisses – Saree hätte sich, falls gewünscht, als Grabredner zur Verfügung gestellt- wurden vorher festgelegt. Das Münchner Unternehmen Pietät sollte die möglichen Begräbnisse vornehmen. Während der ersten Tage der d5 erklärten sich drei Personen bereit, auf 15 Minuten ihrer wachen Lebenszeit zu verzichten. Die Landesärztekammer verbot jedoch dem Anästhesisten unter Androhung der Exprobation die Ausführung der Narkose. Damit wurde der Raum geschlossen und das Konzept aufgegeben.

Saree, mit der Erfahrung des entfernten Krebses und dem Wissen um das Risiko der erneuten Erkrankung, versucht eine Teilübertragung des möglichen Todes. Das Risiko der Anderen, nämlich 1:6000 ist statistisch viel geringer als seine mögliche Wiedererkrankung. Der unwahrscheinliche, aber mögliche Tod scheint mir das zentrale Moment dieser Arbeit zu sein. Saree bringt den Mitwirkenden in Gefahr, in die Nähe seiner Gefahr. Parallel dazu nimmt er dem Mitwirkenden zumindest temporär das Bewusstsein, eine völlig antipodische Haltung zum auf der documenta 5 erklärten Programm der Grenz- und Bewusstseinserweiterung. Es ist ein Kunstwerk über Vernichtung: über Vernichtung von bewusster Zeit, über potentielle Vernichtung von Leben. Hier verschwindet nicht mehr eine Silbe von möglich, sondern möglicherweise ein Mensch.

Im Herbst verlässt Saree München und zieht nach Köln. Gegen Ende des Jahres erfährt er von seinem neuen Krebs. Er erfährt, dass keine Hoffnung mehr besteht. Er beginnt in Form von Tonbandgesprächen seinen nahen Tod zu dokumentieren; er fordert Freunde und Zufallsbekanntschaften zu einem Gespräch über sein Ableben auf. Aus dieser Phase existiert auch ein Band mit dem Gespräch Beuys-Saree. Wie zu Beginn erwähnt, benutzt er die rheinischen Eröffnungen, in der Tasche eine von einer Uniklinik ausgestellte Bescheinigung, dass er sterben wird – als Bühne seines Abgangs.
Umgeben von Kunstwerken, die latent auf Ewigkeit ausgerichtet waren, personalisiert er den Verfall, der sich in Wochen vollzog. Es war nicht mehr die artifizielle Nobilitierung der Bazon Brock’schen Blechtafel: DER TOD DIESE VERDAMMTE SCHWEINEREI MUSS ENDLICH AUFHÖREN, das künstlerische Konzept wurde eingeholt von der Realität, und die Realität wurde zum letzten künstlerischen Konzept.
In dieser Zeit fiel noch der Beginn seiner Beschäftigung mit der damals geplanten Personalkennziffer. Es entstand ein offener Brief und ein Plakatentwurf in denen sich Saree gegen die Einordnung des Individuums unter staatliche Kontrolle wehrte. Parallel dazu hat er seinen Paß vernichtet, was nach Auskunft von Rudolph Zwirner, einem seiner Kölner Freunde, zu großen Schwierigkeiten nach seinem Tode führte. Da die staatliche Existenz eines Menschen unter anderem durch seinen Paß definiert ist, hat er durch dessen Vernichtung seinen offiziellen Tod bereits vorverlegt. Der private, individuelle, intime sollte bald darauf folgen.
Wie die zweite Silbe des Wortes möglich, eingesprochen in ein Geländer, verflüchtigt sich Saree, wird ungreifbar und lebt, von viel zu wenigen erkannt, wahrscheinlich in dem ihm nicht zugestandenen Luftraum über der Stadt München, in 611,8 Meter Höhe.


Stephan Huber


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