Roland-Preis für Kunst im öffentlichen Raum der Stiftung Bremer Bildhauerpreis
Laudatio auf Stephan Huber
am 18. Dezember 2006 im Kaminsaal des Bremer Rathauses

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
meine Damen und Herren,
lieber Stephan Huber -

Auf dem Marktplatz vor dem Bremer Rathaus steht eine kolossale Figur, fünfeinhalb Meter groß und 600 Jahre alt, die dem Bremer Bildhauerpreis seit 1990 den Namen gibt: Roland-Preis für Kunst im öffentlichen Raum. Der Kopf, als am wenigsten witterungsbeständige Teil, ist jüngst erneuert worden; der Rest wurde oftmals restauriert, die Farbigkeit, im Jahrhundert der Aufklärung grau übertüncht, ist heute maßvoll wiederhergestellt. Über den Kunstrang dieser Statue kann man geteilter Meinung sein. Doch unbestreitbar ist, dass sie eine maßgebliche gesellschaftliche Rolle gespielt hat. Gegen die Autorität des Adels und des Klerus hat der barhäuptige Kerl den Willen der Bürgerschaft repräsentiert, die neuen „Freiheiten“ - die des Marktes und der Rechtssprechung zumal- wehrhaft, notfalls mit Schwert und Schild, zu behaupten und zu bewahren. Dabei mag die Herkunft dieses letzten europäischen Kulturheroen aus der Rolandsage ziemlich phantastisch anmuten und der doppelköpfige Reichsadler auf dem Schild eine raffinierte Erschleichung sein – sei’s drum: Der großspurige Anspruch und die kleinen Schwindeleien, auf denen Menschen nun einmal ihre Welt gründen, tun der Würde dieses Platzhalters einer frühen bürgerlichen Öffentlichkeit keinen Abbruch.

Im Gegenteil, die heroische Legende, die solche Gestalten repräsentieren, hat die Pioniere und Kritiker der Moderne gleichermaßen fasziniert. Der Traum vom herkuleischen Platzschaffen besitzt eine gewaltige Anziehungskraft, seit die Okkupation des öffentlichen Raumes durch Verkehr und Kommerz die kulturelle Selbstdarstellung der Gesellschaft in eigens dafür vorgesehene Schutzräume verdrängt hat. Stephan Hubers Zweifel, ob Kunstwerke im anonymen und unübersichtlichen Kontext unserer Städte überhaupt noch zu verantworten seien, „da jedes Signet, jeder Schaukasten, jede Werbetafel, die gesamte Möblierung der Städte mit ihnen in Konkurrenz treten“, beschreibt das Dilemma präzise. Scheinbar bedürfte es eines neuen Roland, der – sozusagen in umgekehrter Mission – die Markfreiheit entschlossen zurückdrängte und in Schach hielt, um Spielräume zu schaffen für den unkalkulierbaren Mehrwert zweckfreier Handlungs- und Austauschformen. Doch die Hoffnung auf eine solche Umwälzung ist wohl vergebens, zu eng ist die Verstrickung von privaten und öffentlichen Interessen in der bürgerlichen Welt. Was wir beklagen, ist bei Lichte besehen zu unserem eigenen Vorteil. Wir sind die Profiteure und die Leidtragenden der alltäglichen Ausbeutung des Gemeineigentums in einem. Wenn heute nur noch die Sprache der Werbung spricht, auf allen Plätzen und Kanälen, bei Tag und bei Nacht, vom Gucci-Täschchen bis zur verpackten Hausfassade, dann nur deshalb, weil die unsägliche Mantra der Besitzergreifung – Du bist Deutschland, Hol’s Dir, Man gönnt sich ja sonst nichts, Das bin ich mir Wert, usf. – längst von uns selber Besitz ergriffen hat.

Wahrscheinlich sieht der ehrwürdige Roland vor dem Rathaus deswegen, trotz des neuen Kopfes, noch ein wenig älter aus, als er tatsächlich ist: weil auch er zum Werbeträger geworden ist, zum Logo des Fremdenverkehrs. Das ist keineswegs nur kritisch gemeint; mitnichten. Hat man die Unausweichlichkeit der Verstrickung einmal erkannt, sieht die Lage gleich viel freundlicher aus. Stephan Huber gehört zu einer Gruppe von Künstlern, die Anfang der achtziger Jahre mit einer künstlerischen Strategie Ernst machten, die im 20. Jahrhundert schon einmal in Reichweite gewesen war, aber in diesem von Katastrophen zerrissenen Saeculum dann doch wieder von schlichteren Einstellungen verdeckt wurde. Als die französischen Surrealisten Ende der zwanziger Jahre ihre Beziehung zum Kommunismus und zur Weltrevolution diskutierten, reagierte Francis Ponge mit einem jener Prosagedichte, die er später bescheiden Proemes („Vorreden“) nannte. Es trägt den Titel Les Écuries d’Augias (Die Ställe des Augias“) und endet mit der These: „Es handelt sich nicht darum, die Ställe des Augias auszumisten, sondern darum, sie mittels ihrer eigenen Jauche mit Fresken auszumalen: eine rührende Arbeit (travail émouvant), zu der ein festeres Herz und mehr Feingefühl und mehr Ausdauer gehören, als Herkules für seine Arbeit simpler, grober Moralität brauchte.

Dieser alla fresca – Zugriff verlangt in der Tat ein gewisses „Feingefühl“ (finesse), das nicht jedermann mitbringt, weil es nicht überall zuhause ist. 1952 in Lindenberg im Allgäu geboren, ist Stephan Huber in einem Bayern aufgewachsen, in dem der Misthaufen vor dem Haus noch kein touristisches Ärgernis war, sondern den Wohlstand des Bauern repräsentierte. Viel Vieh im Stall macht viel Mist. Neben diesem Sinn für die profane Basis bildet sich im Voralpenland jedoch auch ein starkes Empfinden für Höhe aus. Wer unterm Alpenblick aufwächst, lernt früh, dass Erhebung ein objektiver Vorgang ist, keine subjektive Regung, die mit dem demütigenden Gefühl von Kleinheit einhergeht. Denn es sind die Gipfel, die den Blick heben, nicht die Menschen, die zu ihnen aufschauen. Solche regionalen Prägungen hat Huber stets für wichtig erachtet, da sie die Raumerfahrung und die Handlungsmaßstäbe spezifizieren und dadurch die Möglichkeit des Dialogs in einer globalisierten Welt offen halten. Ihn selber scheint die Besonderheit des Herkunftsortes empfänglich gemacht zu haben für das barocke Credo, das alle Orte, die fernen wie die nahen, nur Bühne und Kulisse sind für ein Welttheater, in dem das Sinnbild der Wirklichkeit näher kommt als die direkte Aussage.

Beides, das Theater und die Allegorie, sind in der modernen Kunst lange verpönt gewesen. Noch 1967 konnte Michael Fried für die bildende Kunst mit dem Brustton der Überzeugung reklamieren: „Der Erfolg, ja das Überleben der Künste hängt zunehmend von ihrer Fähigkeit ab, sich des Theaters zu erwehren (to defeat theatre)“; und die Allegorie, die rational kodifizierte Darstellung des Unsichtbaren durch Sichtbares, galt als gänzlich unvereinbar mit einer Kunst, der durch das Verschwinden einer repräsentativen, allgemeingültigen Auffassung von Wirklichkeit die Ausbildung einer verbindlichen Ikonographie versagt war. Doch bereits Ende der sechziger Jahre hatten sich die Parameter merklich verschoben. Beinahe gegen die eigene Intention verwandelte die Minimal Art den Ausstellungsraum in eine dramatische Szene; und der Erfolg der Konzept-Kunst im folgenden Jahrzehnt gab, nicht minder paradox, die Gesamtheit der alltäglichen Dinge zur künstlerischen Bestimmung frei. Das war die Ausgangssituation, aus der heraus Stephan Huber eine neue Form der allegorischen Erzählung entwickelt hat, die in ihrer Verbindung von theatralischen und epischen Elementen nur ihm eigen scheint. Anders als in der traditionellen Allegorie wird hier nicht einem unanschaulichen Begriff ein Bild zugeordnet, sondern eine unerwartete Kombination von Gegenständen oder Anschauungen eröffnet eine Beziehung, deren Sinn unausdrücklich bleibt. Trotz dieser Suspension von Begrifflichkeit zielt die Strategie von Hubers Kombinatorik jedoch nicht auf die Verrätselung der Dinge, wie in den klassischen Beispielen des Surrealismus, sondern setzt auf das Interesse und die Bereitschaft, die Lust und die Findigkeit des Betrachters, den anschaulich verborgenen Zusammenhang zu entziffern und zu erzählen – sich selber und womöglich anderen Betroffenen.

Eine frühe Photographie aus dem Jahre 1983 zeigt einen rechts vor einer weißen Raumecke stehenden Lastenträger, der, von hinten gesehen, wie ein Kuli eine Stange im Nacken über den Schultern balanciert, an der zwei gleiche Gewichte hängen. Diese Lasten sind jedoch, wieder jede Wahrscheinlichkeit, hell illuminierte Kronleuchter, deren von den Wänden reflektiertes Licht einen schwachen aber deutlichen Schatten der Szene in den Vordergrund wirft. Der Titel des Bildes „Arbeit im Reichtum, 1“ gibt einen gewissen Aufschluss, indem er den gegenständlichen Kontrast zwischen den Luxusobjekten und dem primitiven Akt des Schleppens benennt. Doch die Erklärung befriedigt nicht, weil sie die suggestive Beziehung nicht trifft. Die folgenden Varianten des Themas verdeutlichen die Prägnanz des Zusammenhangs, wenn auch nur durch die Vervielfachung möglicher Mutmaßungen. Die Assemblage „Arbeit im Reichtum, 10“ zum Beispiel zeigt den brennenden Kronleuchter in einem nagelneuen Schubkarren: ein Kommentar zur Absurdität des Überflusses – oder ein Emblem der Entfremdung von Luxus und Maloche? Manchmal hilft indes neben der Veränderung der Orte auch die Zeit, Hubers Sinnbilder deutlicher zu sehen. Im Ostberliner Stadtteil Marzahn hat er 1998 als Auftragsarbeit zwei überlebensgroße Kopien des Kulis mit den Kronleuchtern in Gestalt von Mosaiken im Foyer des Verwaltungsgebäudes einer Wohnungsbaugesellschaft installiert. Wer hier nach einem neuen Heim sucht, weil das alte nicht mehr erschwinglich ist, kann sich der Anspielung auf die Arbeitslosigkeit der Zukunft schwerlich entziehen. Eingelassen in eine strahlend gelbe Umgebung, funkelt grau in grau das düstere Mosaikbild der neuen Leid- und Lusterfahrung: die Allegorie vom Arbeitnehmer, den die Firma, in deren Aktien er sein Vermögen investiert hat, entlassen musste, um die Ausschüttung der Dividende für die Aktionäre zu erhöhen.

Die Erzählungen, zu denen Hubers Arbeiten animieren, werden so zuweilen unfreiwillig geschichtlich, indem sie eine eigene Dynamik und Finalität annehmen, die von keiner Vorsehung, auch der des Künstlers nicht, diktiert scheinen. So ist die große Arbeit für den neune Münchner Flughafen, „Die Alpen“ (1993), von Huber selbst als ein Bekenntnis zum Regionalismus interpretiert worden: ein wiederum ins Mosaik umgesetztes Photo eines majestätischen, schneebedeckten Alpengipfels, das über einer schrägen blauen Glasplatte aufragt, über die rasch und in Mengen Wasser fließt, das sturzbachartig in ein rechteckiges, gläsernes Auffangbecken fällt. Die heitere Hommage ans Alpenland an einem Sammelplatz von Ortsflüchtigen wird indes neuerdings von der ominösen Vorahnung überschattet, dies könnte, in durchaus absehbarer Zeit, das definitive Denkmal für die durch die globale Erwärmung hervorgerufene Gletscherschmelze sein. Der Grund für solche Bedeutungsverschiebungen scheint die radikale Beweglichkeit der allegorischen Bezüge in Hubers Arbeit zu sein. Nicht nur, dass die gleichen Versatzstücke in veränderten Konstellationen unter Umständen ihren Sinn ändern, statt auf ein und dieselbe Funktion und Begrifflichkeit fixiert zu bleiben; sogar der Spielraum selber wird offenbar nicht als fixe Größe vorausgesetzt. Unter den Künstlern, die ortsspezifisch arbeiten, ist Stephan Huber derjenige, der die faktische Auflösung der festen Koordinaten eigens thematisiert. Seine Räume sind aus den Fugen: Fest und Beweglich, Oben und Unten, Groß und Klein, Innen und Außen sind keine verlässlichen Orientierungen mehr. Kronleuchter schwingen, von Motoren getrieben, unter der Decke; Parkettböden sind aufgebrochen oder an die Wand tapeziert; Stuckrosetten tauchen in irrealen Positionen und Funktionen – als Bodenbelag oder Sonnenembleme – auf; riesige Alpengipfel werden als Stückgut in einem Regal, das die Größe eines Baugerüsts hat, gelagert; Rhein und Main schlängeln sich in Gestalt blauer Neonröhren durch das Gebäude einer Versicherung („Im Fluss“, 2002, Allianz, Frankfurt a. M.).

Diese Auflösung verlässlicher Richtmaße scheint, kulturkritisch besehen, nicht unbedenklich. Wo kämen wir hin, zumal im öffentlichen Raum, wenn die Unterschiede von Oben und Unten, Groß und Klein, Innen und Außen nicht mehr gesichert ist? Doch genau dies, die Furcht vor dem Verlust, beschleunigt die Erstarrung und den Zerfall, Denn sie übersieht, dass der aus den Fugen geratene Raum eine Offenheit birgt, eine Chance der Umgestaltung und Neuorientierung, der zu entsprechen größere Umsicht und Achtsamkeit erfordert als die herkuleische „Arbeit simpler, grober Moralität“ (Francis Ponge). Das Nachdenken darüber kennzeichnet eine philosophisch-poetische Seite von Stephan Hubers Arbeit, die, obschon eng mit der gesellschaftlichen Ausrichtung verwoben, gelegentlich selbstständig hervortritt, etwa in der höchst sinnigen Geschichte vom Hut. Sie beginnt früh, 1984, mit der „Melancholischen Skulptur“: zwei nebeneinander stehenden Gruppen von Werkzeugkisten und Koffern, über denen jeweils ein übergroßer, das lose Arrangement nur dürftig deckender Hut lagert. Wie das alles unter einen – vielleicht zwei – Hüte bringen, dieses unablässige Werkeln, Abschiednehmen, Aufbrechen zu neuen Ufern? Nach Zwischenstationen taucht das Motiv des übergroßen Hutes dann, einzeln und noch einmal vergrößert, 1997 in einer Installation des Projektraums Berlin auf. Wer die Ladengalerie betreten hatte, musste sich zunächst klein machen, um sich durch die winzige Türe in den durch eine Wand abgetrennten Raum der Installation zwängen. Dort wartete, ungefähr auf Kopfhöhe von der Decke hängend, ein riesiger Hut auf den Besucher – die sogenannte „Ichkuppel“, aus deren Innern eine Frauenstimme dem wieder aufgerichteten Ego den Kopf wusch:

Du hast Führungsqualität. Du bist pragmatisch.
Du bist schnell. Du formulierst Dich blendend.
Du bist ein Sieger.
Du schaffst es nie.

Es ist zu spät.
Du bist sprachlos.

Du hast keine Chance.
(usf.)

Ein Jahr später hatte diese tragisch-komische Mutation vom Zwerg zum Riesen und wieder zurück schließlich ein ausgelassenes Nachspiel im „Grünen Dach“, einem monumentalen, aus Kupferblech gefalzten Hut, der im Landschaftshof zwischen zwei Gebäudetrakten der HUK Coburg-Hauptverwaltung freischwebend aufgehängt wurde. Der Selbstanpreisung einer Versicherung entsprechend lässt sich diese Arbeit unschwer als ein Sinnbild für umfassendes Behütet-Sein verstehen. Da der Künstler jedoch, ökologisch korrekt, im Holzkorpus des Hutes Nistkästen und eine Futterstätte für Vögel angebracht hat, erweitert sich der Sinn des Behütet-Seins nicht nur auf die sorglose Kreatur. Der unbefangene Betrachter des regen Hin- und Herschwirrens kommt womöglich auf den Gedanken, dass auch bei denen, die im menschlichen Betrieb den Hut aufhaben, nicht auszuschließen ist, dass unterm Hut – tittitä, tittitä – eine Meise den Ton angibt.

Das ist vielleicht der heikelste Punkt der Kunst von Stephan Huber, die Heiterkeit. Die Jury des Roland-Preises hat ernsthaft das Für und Wider erwogen, ob es nach Jochen Gerz, Maria Nordman, Christian Boltanski und Thomas Hirschhorn nicht an der Zeit sein könnte, einen Künstler auszuzeichnen, der dem Moment der Heiterkeit im öffentlichen Raum Geltung zu verschaffen vermag. Denn mit Nachdruck, Scharfsinn und bildnerischer Disziplin leicht zu sein, ist etwas vom Schwierigsten und Höchsten in der bildenden Kunst. Nichts beweist dies deutlicher als das Trauerspiel von verklemmter Ironie und albernen Geistreicheleien, mit dem die Epigonen von Duchamp Witz in der Kunst zu zeigen versuchen. Stephan Huber scheint demgegenüber der Kunst des Barock das Geheimnis der Leichtgewichtigkeit abgeschaut zu haben: Vor der unumstößlichen Realität des Todes ist alles Sichtbare Schein – und deswegen sogar die anschauliche Darstellung dieses Faktums unfreiwillig komisch. Mitte der achtziger bis etwa Mitte der neunziger Jahre tauchen in seinem Werk vorübergehend die nackten Skelette der barocken Todesszenarien auf. Auf Stahlstäbe gestützt und gespießt krauchen sie über aufgerissene, von unten erleuchtete Parkettböden, weltverloren einer unersichtlichen Suche hingegeben. Ist es womöglich – in der Installation „Rote Sonnen“ (1986) etwa – die untergegangene Sonne der Freiheit, nach der die hochgestimmten Brüder strebten, die diese Klappermänner unterm bürgerlichen Boden zu finden meinen? – oder einfach das ewige Licht der Wahrheit, dem Berninis knochendürrer Tod noch verschämt den Vorhang hob? In jedem Fall ist es ein abgründig komischer Ernst, der die Heiterkeit von Hubers Arbeit grundiert.
Diese Disposition bestimmt am Ende auch die Aufführung des Künstlers selber. Sich leicht machen, Raum freigeben zu können, statt immer nur mit dem eigenen Volumen zu renommieren, ist in einer Sparte, die einem rigorosen Verdrängungswettbewerb frönt, eine seltene Fähigkeit. Die hohe Rede vom Auftrag der Kunst im öffentlichen Raum verschweigt meist taktvoll, dass sie einer Species von Selbstdarstellern das Feld bereitet, die sich in der Regel gesellschaftlich nicht eben durch zivile Reflexe auszeichnen. Stephan Hubers Generation mag da im Ansatz anders gedacht haben, aber der Weg vom Vorsatz zur Verwirklichung ist angesichts des eingefahrene Rollenverständnisses vom Künstler weit und unsicher, zumal in Zeiten des Hochkapitalismus auf dem Kunstmarkt, der selbst gefestigte Gemüter zu verwirren imstande ist. Ein erster Versuch der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, das „Engadin-Projekt“ von 1983, an dem Bogomir Ecker, Thomas Huber, Harald Klingelhöller, Raimund Kummer, Thomas Lehnerer, Wofgang Luy und Hermann Pitz beteiligt waren, scheiterte an der Kluft zwischen Unerfahrenheit und Idealismus, wie Stephan Huber im nachhinein resümiert hat: „Wir sprachen damals, jugendlich verklärt, von den Saint-Simonisten, die ihre Kleider so entworfen hatten, dass sie nur von hinten zuzuknöpfen waren – um beim Ankleiden sich immer bewusst zu werden, dass sie nicht als Einzelne existieren konnten. Wir arbeiteten an einem Bild der Gemeinschaft. Die einzelnen Kunstwerke sollten sich an der übergeordneten Idee eines Hauses orientieren und ein verschachteltes Ganzes ergeben. Als zu junger und zu ängstlicher Auftraggeber habe ich immer die Sicherheit der beteiligten Gruppe gesucht und damit das fiktive Auftragsmodell konterkariert.“ Doch zuweilen kommen auch die echten Chancen im Leben zweimal. 1999 erhielt Stephan Huber von der Stadt München den Auftrag zur Gestaltung eines Parks. Daraus entstand das interessanteste und wohl gelungenste Projekt von Kunst im öffentlichen Raum der letzten Jahre: der Petuel-Park.

Die Vorgeschichte ist rasch erzählt: Nach langem Widerstreben hatte sich die Stadt München, bedrängt durch ein Bürgerbegehren, entschlossen, die einst im Zeichen der Utopie der „autogerechten Stadt“ vollzogene brutale Trennung der Stadtteile Schwabing und Milbertshofen durch die Stadtautobahn, den „Mittleren Ring“, nachträglich dadurch zu heilen, dass ein circa 1 km langes Teilstück der Rennstrecke unter die Erde verlegt wurde. Die dadurch entstehende oberirdische Passage – ein Schlauch von 900 Metern Länge und einer Durchschnittsbreite von 80 Metern, umschlossen von der Baumasse der Wohngebiete – sollte von Landschaftsarchitekten begrünt und Künstlern zur Gestaltung freigegeben werden. Stephan Hubers Konzeption zielte von Anfang an darauf ab, statt eines „Masterplans“ einzelne Künstler mit der Bearbeitung bestimmter Orte zu beauftragen – freilich nicht im Sinne einer „Gemeinschaftsarbeit“, diese Lektion hatte er gelernt. Als eine Art Regisseur oder „Kunstkurator“ (er liebt diesen Titel nicht), der am Ende auf einen eigenen Beitrag verzichtete, knöpfte er sich dieses Mal ausgewählte Kollegen vor, um in Gesprächen mit ihnen eine Gesamtgestaltung zu entwickeln, in der Diversität und Kohärenz gleichermaßen zu Recht kommen sollten. Das Ergebnis ist eine Mischung aus Stadtgarten und Kunstparcours, erarbeitet im Dialog mit 12 höchst unterschiedlichen Künstlern. Die Spannweite reicht – um nur einige Beispiele zu nennen – vom Roman Signers wie zufällig abgestellten Stiefeln, aus denen in Abständen, plötzlich und unerwartet, Wasserfontänen schießen, bis zu einer Marienstatue des Holländers Hans van Houwelingen, die aus der Hand des Jesuskindes sanft Wasser quellen lässt; von Rodney Grahams „Musical Folly“, einem Bosquet, in dem die Besucher einmal am Tag einen Song von „The Kinks, „I am on an island“, zu hören bekommen, bis zu Raimund Kummers aus giftgrünem Glas gefertigten „Augen für einen am Baum angeketteten Klappstuhl“; von Harald Klingelhöllers „Rhetorischem Wäldchen“, das unter Bäumen, die erst noch wachsen müssen, sechs unterschiedliche, aus schwarzem und weißem Granit geschnittene Rednerpulte mit Brunnenanschluss versammelt, bis zu Pia Stadtbäumers jugendlichem Reiter, dessen Maultier, schwer mit den Insignien zeitgenössischer Trashkultur behangen, auffällig gegenüber dem Lion-Feuchtwanger-Gymnasium in Stellung gebracht ist. Und wer an die gute alte Zeit erinnert werden möchte, der kann mit Bogomir Eckers Periskop hinabblicken in die Unterwelt des Tunnels, wo die infernalische Raserei wie eh und je und endlich unabgelenkt von irgendeiner Aussicht weitertobt.

Nicht alles, gesteht Stephan Huber, ist so geworden, wie er es sich gewünscht hätte. Einiges, wie die Bäume, die langsamer wachsen als es Künstler gerne hätten, muss erst noch werden; und manches, wie die Sorge um die Zukunft, ob die öffentliche Hand imstand sein wird, diese ambitionierte Anlage angemessen zu pflegen, kann fürs erste außer Acht bleiben. Für den Augenblick ist entscheidend, dass die Bewohner der Stadt den Petuel-Park angenommen haben, ohne sich darüber zu ereifern, ob das Kunst ist; oder schlimmer: ob das noch Kunst ist. Diese akademische Querele, die wir dem bildnerisch nicht sonderlich fruchtbaren 18. Jahrhundert verdanken, ist in der zeitgenössischen Kunst längst obsolet geworden. Was heute als Kunst firmiert, ob in Galerien oder im öffentlichen Raum, will gemessen werden an der Frage „Ist da was?“ Oder besser noch: „Ist da was?“ Die Jury des Bremer Bildhauerpreises hat die Frage klar beantwortet: Ja, da ist etwas, das ausgezeichnet zu werden verdient – und hat Stephan Huber den Roland-Preis 2006 verliehen.

Prof. Dr. Robert Kudielka


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