Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.08.1997, Feuilleton,

Robespierre in Kassel
Ein Künstler blickt auf die documenta X

Die meisten Rezensionen der documenta X treffen nicht das Wesentliche. Wohlwollende Besprechungen betonen das Nichtspektakuläre, kritischere Stimmen beanstanden die fehlende Sinnlichkeit. Doch beide Positionen sind unerheblich. Die Künstler sollten die Mängel benennen, denn ihrem Metier geht es an den Kragen. Die Komplexität und die Autonomie der Kunst müssen gegen die Versuche ihrer Instrumentalisierung verteidigt werden. Viele meiner Freunde und Kollegen haben offenbar die Texte und die niedergeschriebenen Gespräche der documenta-Veröffentlichungen nicht gelesen. Dadurch wird nur von wenigen die neue, fundamentalistische Qualität der in Kassel formulierten Programmatik erkannt.
Die Gefahr für die Kunst liegt weniger in widerlichen Ärgernissen, seien es Modeschauen in Museen, oder sei es die Benennung von Ausstellungsräumen nach Sponsoren, sie liegt in der Beschränkung und im Ausschluß, wie sie in Kassel praktiziert werden. Die documenta X gibt den Diskurs zugunsten des Verdiktes der politischen Intervention auf. Diese Entscheidung fällt gegen die Interessen der Künstler. Sie stützt die Macht der Kuratoren.
Deutlich wird dies besonders in den veröffentlichten Texten und im Rahmenprogramm. Zu erwähnen sind einerseits das Buch zur documenta X mit einem programmatischen Gespräch zwischen Catherine David, Jean-Francois Chevrier und Benjamin Buchloh sowie der Kurzführer mit dem Vorwort von Frau David. Andererseits der ideologische Hauptraum der documenta X mit Buchhandlung und Auditorium, der mit der Veranstaltung „100 Tage – 100 Gäste“ gefüllt wird, einem Vortragsmarathon, der nahezu ohne Künstler auskommt. Die in rein dienender Funktion von Vito Acconci entworfene Buchhandlung und das von Heimo Zobernig und Franz West gestaltete Auditorium entwickeln keinen Eigensinn, bleiben hinter den Möglichkeiten der Künstler zurück. Sie ordnen sich schlicht dem Zweck, der in Kassel immer auch der Wunsch von Frau David ist, unter. Ohnehin überlagert die geballte Wortdominanz die Bedeutung und den ästhetischen Rest der Ausstellung. Fridericianum, Parcours und die übrigen Orte verkommen zum traurigen Abbildungsteil der politischen „Theorie“. Das fünfundvierzigseitige programmatische Gespräch der Troika liest sich wie die Satire eines Soziologieseminars von 1970. Leider ist es ernster. Vulgärmarxismus und Selbstmitleid prägen den Willen, neue Verordnungen über Haltungen von Künstlern zu erlassen und gleichzeitig den Zweck der Kunst festzulegen auf die politische Intervention und auf die Spiegelung der Gesellschaft. Oder, in der Sprache von Frau David: Es gilt, die modernen Ruinen als solche zu identifizieren. In „retroperspektivem“ Sinn wird diese Spiegelung hauptsächlich illustriert mit „politischen“ Kunstwerken der frühen siebziger Jahre. In diese Zeit fühlt man sich in Kassel zurückversetzt.
Doch im Gegensatz zu den siebziger Jahren findet auf der doucmenta X Pluralität nur noch innerhalb des vorgegebenen Diskurses statt: Globalisierung, Postkolonialismus, gender, institutional critique und so weiter. Die angebliche Pluralität wird zur Restriktion. Verweise auf Zeitschriftenvorbilder wie „October“, oder „Texte zur Kunst“ treffen hier nicht, da diese anderen Veröffentlichungen ihre Antipoden finden und damit nur eine Haltung in einer pluralistischen Öffentlichkeit darstellen. In Kassel formuliert sich die Politik des Ausschlusses zum ersten Male richtungsweisend auf höchstem Niveau. Die totalitäre Haltung wird zur Politik einer Institution, die zumindest temporär die wichtigste Institution der Kunst ist.
Zunächst bestand mein Text hauptsächlich aus Zitaten, um Ausschluß und Antipluralität nachzuweisen: „Ein Maler kann dem Bild nichts außer dem Material hinzufügen, er ist ein Gefangener seiner Bilderküche, was angesichts der Macht des Bildes einfach obszön erscheint.“ – „Wie soll man sich heute eine künstlerische Tätigkeit ohne das Volk vorstellen?“ – „Sie begreifen das Volk jenseits von Nation und Klasse, das kann ich nicht.“ – „Wie weit  die Amerikanisierung ging, zeigt sich beispielsweise darin, wieviel amerikanische Kunst Ludwig nach Köln importierte. Dies war zunächst eine Methode, die Avantgarde-Kultur der Weimarer Zeit zu unterdrücken.“ – „Broodthaers las Lacan  besuchte sein Seminar. Auch Foucault hat er gelesen und verstanden. Deshalb stellt diese documenta ihn in den Mittelpunkt.“ – „aber Wall und Richter reichen nicht ganz an die zeitgenössische Position heran.“ – „Eine ähnliche Mehrdeutigkeit führt bei einigen Künstlern in eine fürchterliche Falle, bei Kounellis und Boltanski zum Beispiel.“ – „Das Paradoxe ist, dass er (Beuys) es zu spät tut, in einem Augenblick, wo es vollkommen obsolet und unmöglich ist.“

Die aus dem Zusammenhang gerissenen Stellen zeigen nicht hinreichend, daß Stil, Duktus und Inhalt des Gespräches aus verbrauchten Formen bestehen. Wo bleibt der Protest der Künstler, wenn mit solch abgestandenem Formenvokabular der Stand der Kunst am Ende dieses Jahrhunderts definiert werden soll? Mir fehlt das Instrumentarium, um diese Mischung aus Spießigkeit und Machtallüre, aus Kleinbürgertum und Weltbeherrschungswunsch zu analysieren: ich muß empfehlen, das Gespräch zu lesen. Vorgeführt wird die Disqualifizierung einzelner Künstler (zum Beispiel Beuys), neu bestimmt werden die künstlerischen Quellen (Permanenz der Sprache und des Urbanen), abgeschafft wird das ästhetische Denken (Kunstwerke haben sich an Tatsachen zu orientieren). Der Freiraum der Kunst wird durch eine Theorie, die ihre Legitimität nicht nachweist, politische domestiziert. Somit ist eine Debatte über ästhetische Fragen nicht länger erwünscht, denn über sinnliche Erkenntnis und deren starke Bindung an das Individuum entsteht keine (kunst)politische Macht. Doch ausschließlich darum geht es in Kassel: die Installierung der Macht als Selbstzweck.
Wird das von Frau David proklamierte documenta-X-Modell zur Norm, überzieht eine bleierne Gleichförmigkeit die Kunst. Diejenigen Künstler, die sich dem politischen Verdikt nicht beugen, werden umgedeutet oder abgeschafft. Malerei, allem voran die Abstraktion, wird als konservative ästhetizistische Position annulliert. Jeder Wunsch des Künstlers, den Betrachter in Bann zu ziehen, ist als kapitalistische Spektakelkultur verboten. Kunsthallen werden zu Auditorien; dort wird unter dem Vorwand, nicht mehr der Kulturindustrie gerecht werden zu wollen, das Programm back to the roots, zur politischen, publizistischen und ideologischen Gegenöffentlichkeit von 1970, vollzogen.
Schluß wäre dann auch mit der Praxis, in Ausstellungen gleichzeitig antagonistische Haltungen und Programme zu formulieren. Gestisch-Expressives und klassischer Kanon, politische Intervention und cross-over standen als Möglichkeit der Äußerung gleichwertig nebeneinander. Dieser produktive Streit war ein Beispiel für die Selbstbestimmung der Kunst. Eine ausschließende, radikale Haltung innerhalb der Kunst trifft nie das Ganze und ist eine Möglichkeit zugleich Garant der Freiheit der Kunst. In Kassel werden der Kunst Fesseln von außen auferlegt: “Es ist der kalte, technokratische Zugriff auf die Kunst, verachtend und präpotent. Frau David und ihre Gesprächspartner besitzen weder Unabhängigkeit noch Freiheit des Ausdrucks. Ihre mitteilenswerte Erfahrung besteht aus einem Formenvorrat, der an die frühen siebziger Jahre gebunden bleibt. Gesucht wird in der heutigen Kunst lediglich der Widerhall dieser aufgezehrten Formen, denn sie verachten die autonome zeitgenössische Äußerung von 1997. Kunst ist nur gut, dient sie zur Figuration ihrer Theoreme. So überzieht das Ganze eine totale politische Instrumentalisierung. Daß Kunst, trotz des Terrors der Beschränkung und des Ausschlusses, auch diese Bilderstürmer überleben wird, zeigt sich in den Kunstwerken, die diese geistige Enge sprengen: Stellvertretend seien hier die Filme Jean Luc Godards genannt. Die Werke mit der größten ästhetischen Präsenz bleiben am stärksten verschont von der Instrumentalisierung.

Stephan Huber


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