Reservoir

I
Teppiche, Vorhänge, Kissen, Sofas sind Ton in Ton: lindgrün, beige, gelbocker. Auch Stiche und Bilder haben den Farbklang der textilen Haut. Die dämpfende Textur der Oberfläche frisst jedes Geräusch. Wo ist das Echo?
Das Inventar lebt, es ist die Physiognomie des Hauses. Im Gewirr der Symbole erwachen Ornament, Arabeske und die labyrinthische Welt des Täbris. Sie erstarren beim Eintritt einer fremden Person.
Unzählige Buchrücken bringen Farbe von ferne. Dieses Ornament des Wissens führt aus dem Futteral durch Mauern und Wälle in andere Welten. Die Amazonaswelt des Bildbandes mit den farbigen Stichen ist ein tiefer menschenloser Naturraum. Grüne Schlingpflanzen überwuchern alles Hochstrebende, modrige Gewässer reflektieren fahl die seltenen Lichtstrahlen, denen es gelingt, den pflanzlichen Kosmos zu durchbrechen. Es riecht erdig.
Besitz: Goldmann-Weltatlas, v. a. die Karten der stadtlosen Regionen (Sibirien/Brasilien/Grönland). Befahren der Flussläufe. Entwurf und Bau der unbekannten Städte nach ihrem Klang: Möglichkeit zur Konstruktion des Heimwehs.
Die Allgäuer Heimat ist ein an die Alpen gepresstes Hügelland. Der Blick nach Norden unverstellt. Doch die Augen sind auf die Berge gerichtet. Alles wartet auf den Schnee. Der lange Winter legt sich über die Wirklichkeit, Leben verschwindet in der Kälte des weißen Gewebes. Deja vu: ein weicher stummer Zustand. Einbildung streicht über den weißen Grund, stört und formt ihn.
Maria ist die Komplizin gegen die Schriftgelehrten, deren schwere Bücher ihre Gesichter zu Boden zerren. Sie hat kein Stigma, sie ist nicht von Pfeilen durchbohrt, sie wurde nie gesteinigt. Sie ist hier und sie ist schön. Sie ist das, was nicht gesprochen werden kann. Sie ist der Spiegel unserer Hoffnung.
Unvermittelt beginnt die Schlacht. Ein schlagartiger Angriff. Das soziale Ganze trifft wie ein Geschoß. Es ist der Anfang der Mauerschau auf die unübersehbaren Frontlinien der zweiten Wirklichkeit. Später, nach der Fahnenflucht ins Reich der „neuen“ Menschen“, finden wir die eignen Waffen. Hier, diesseits der Mauer, leuchtet die Fratze des Januskopfes – strahlendes Idol im Land der Herkunft – kalt, gewalttätig und verbittert.
Wir sehen ein verwaistes Haus. Es liegt im Wald, wir dringen ein. Wir zerstören das Inventar. Ornament, Arabeske und Täbris. Wir zerfetzen die Bücher. Wir verbrennen die Atlanten. Stehen bleibt die nackte Schalung. Wir entwerfen neue Verhältnisse. Nicht die Menschen sondern Gegenstände, die leidenslosen Stellvertreter, rücken ins Zentrum. Heroisch, voller Pathos, im Sinne der Zukunft, zielt die Projektion auf die riesige, maschinengrüne Lokomotive, an deren Gesicht der eiserne rote Stern haftet, die waghalsige Brücken im Dampf hüllt, die dem Licht am Ende des Tunnels entgegenrast. Die unbekannten Städte des Goldmann-Weltatlas können erbaut werden: sich hochschraubende Stahlkonstruktionen aus bewegtem Menschenmeer, überdeckt vom Tuch der roten Fahnen, feiern den Sieg über das alte Inventar.
Die Alpen beginnen hinter den Vororten: sie bilden eine Mauer gegen den Norden. Sie sind Rückendeckung. München ist ein bewohnbares Haus, geräumig und repräsentativ. Die vielen Zimmer sind in verschiedenen Stilen geschmückt. Das Haus öffnet sich zu großen Sälen und schließt sich in kleinen Versorgungskammern. Die Gärten des Vorlandes sind schnell erreicht.
Durch die gebaute Vision der Ludwigstraße führt der Weg zur Kunstakademie. Dort wird Manzonis eingeblechte Künstlerscheiße der Welt entgegengehalten. Abends betrete ich die Straße von neuem. Ein gestreckter menschenleerer Raum öffnet sich. Potemkinscher Wahn. Ein stummer Film, Gebäude an Gebäude, ohne Platzanweiser, ohne Ende. Hier wurde dem Führer zugejubelt. Ganz München stinkt nach Geschichte. Alles ist konservativ, ist klerikaler Spuk. Die Schönheit ist aufgebraucht. Die immerwährende Ruhe! Die gleichen Gesichter! Die gleichen Gesten! Die Theatinerkirche leuchtet im Abendlicht. Gelb. Glühend. Eine gebaute Skulptur. Ein Wunder.

II
Nach dem Zusammenbruch der schon lange nicht mehr geglaubten besseren Welt fehlt der Widerspruch. Die autokratischen Monologe der Sieger sind ausschließend. Die ehemalige Pendelbewegung, als Korrektiv zwischen ideologischen Paradigmen, wird zum Aufenthalt am Rande.
Kritische Vernunft verhindert Einbettung durch den Glauben und damit substantielle Bindung. Die Streichung ist ersatzlos, sie wirft den Einzelnen auf das von ihm selbst konstruierte Glück zurück, ein visionär Ärmeres und sozial Kälteres. Die nicht an den Intellekt gebundene, eher dem Instinkt und der Intuition entspringende Kunst, ermöglicht in Sternstunden eine ähnliche Unität: dann bleibt ihr das Material nicht kalt, dann bleibt sie nicht distanziert, dann kann man den Kopf nicht oben halten.
Der durchgängige Wahrheitsgehalt, der kollektiv (erfahren) ist und dennoch unterschieden, ist die Individuation. Im Moment des Zweifels erlöst die Besinnung auf das monadische Erfahrungs-Ich. Es ist der Ursprung alles Interesses, des Eigensinnes und des Unterschiedes. Es ermöglicht Freiheit zum Ausdruck.

III
Ende des letzten Jahrhunderts erfuhr der Alltag die fällige Ästhetisierung. Die Forderung eines Teils der „Utopisten“ aus der Zeit der zweiten industriellen Revolution hatte ihre Erlösung erfahren. Durch die Befreiung aus ihrer Exterritorialität konnte die Konstruktion Kunst erlöschen. Aufgrund der weltweiten Vernetzung der visuellen und semantischen Codes konnten hierarchische Unterschiede getilgt werden.
Die großen Wohnstrukturen begannen mit der Einrichtung von Zonen, Plateaus von beträchtlichem Ausmaß. Dort war es den Bewohnern möglich, innerhalb einer vorgegebenen Zeiteinheit, aus jederzeit abrufbaren Codemustern Dingtypen herzustellen. Die Rohstoffe wurden zur Verfügung gestellt. Tausende von Zuschauern betrachteten den Ganzheitsritus und skandierten von gekühlten seitlichen Tribünen: „Allgemeine Gestalt“. Die Entsorgung der Plateaus wurde im Vierstundentakt von den Wohnstrukturen übernommen. Dieses Ereignis fand zwölfmal jährlich statt.

Stephan Huber


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