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Ort und Raum aufheben
Helmut Friedel
Jedes Kunstwerk, mit Ausnahme weniger konzeptueller Arbeiten, benötigt seinen räumlich definierten Ort, um in Erscheinung treten zu können. Falls es als flexibel, scheinbar ortsunabhängig entwickelt wurde, wird es den Ort seiner Ausstellung bestimmen, wobei mehrere Kunstwerke im Dialog wie im Widerspruch zueinander und zum Ort ihrer Ausstellung stehen können. Dem Kunstwerk einen Ort zu geben, ihm einen definierten Platz innerhalb des allenthalben wuchernden Chaos zu bereiten, war seit jeher der eine Teil des künstlerischen Schaffens, der mit der Hervorbringung des eigentlichen Kunstwerkes korrespondierte. Die Griechen trennten die heiligen Bezirke durch den sogenannten Temenos von der undefinierten Natur. Romulus und Remus begrenzten mit einer Pflugspur das Gebiet Roms und gründeten so die Stadt. Das Abgrenzen, lateinisch Definieren, eines Ortes gehört zu den ganz ursprünglichen Setzungen und bedeutet einen fundamentalen Kulturakt. Im Laufe der europäischen Geschichte wurden spezifische Strategien entwickelt, um Kunstwerken einen gesicherten Ort, einen Mikrotopos zu garantieren. Für die Skulptur war dies der Sockel, für das Gemälde der Rahmen. Mit dem Beginn unseres Jahrhunderts, mit der Rückbesinnung auf spezifische Bildqualitäten, auf die das Bildwerk oder die Malerei konstituierenden Elemente, fällt das Bild „aus dem Rahmen“ und steigt die Skulptur vom Sockel. Ein ungerahmtes schwarzes Quadrat definiert die Wand, auf der es hängt, ebenso, wie die Wand das Bild bestimmt. Der Akademiehocker als Standfläche für das Rad wird für Marcel Duchamp Bestandteil der gesamten Skulptur. Alberto Giacometti sucht das Problem zu lösen, indem er innerhalb der Skulptur den Raumrahmen für seine Bildwerke schafft, ein Raumskelett also, in dem die Plastik ihren Ort findet. Einerseits verlässt Constantin Brancusi nicht nur die Dimension einer in sich ruhenden und in ihrer Größe definierten Skulptur, sondern dehnt sie im Prinzip ins Unendliche, andererseits schafft er für seine plastischen Bildwerke Trägerformen, die selbst wiederum Skulptur sind. Bei Pablo Picasso und Jean Dubuffet finden wir in den sechziger Jahren Beispiele von Skulpturen, die sich mit den Dimensionen der Architektur messen. Später entwickelte insbesondere Claes Oldenburg eine neue Qualität von plastischer Bildnerei aus der „Übergröße“. Bei Alexander Calder hängt die Skulptur tatsächlich vom Raum ab, wie das schon bei Naum Gabo und Marcel Duchamp vorgedacht war. Mit der Land Art der späten sechziger und beginnenden siebziger Jahre eröffnet die Skulptur sich eine Dimension, die im Prinzip die ganze Erde als Kunstwerk vorstellbar erscheinen lässt. Walter de Marias Vertikaler Kilometer in Kassel visualisiert diesen Gedanken aufs Klarste. Der Socle du Monde von Piero Manzoni ist die konsequente Antwort auf eine Perspektive, die die Raumfahrt der sechziger Jahre eröffnete die Weltkugel als Skulptur.
Eine neue Qualität von Raumerfahrung bringt Joseph Beuys sowohl in seinen Aktionen wie auch in seinen Environments mit sich. Der Raum wird als Plattform benötigt, um plastische Zeichen zu setzen. Ganz anders verfahren gleichzeitig amerikanische Künstler, die von der Definition des Ausstellungsortes als großer „White box“ ausgehen und dies als vergrößerten Rahmen ihrer formal und auch im Material reduzierten Arbeiten verstehen.
Aus diesen Überlegungen zu Skulptur und Raum eröffnen sich Perspektiven zum Verständnis der Arbeit von Stephan Huber, dessen Werk Ende der siebziger Jahre konkrete Gestalt annahm. Bevor Stephan Huber 1980 seine erste Installation im Kunstforum, dem Ausstellungsraum der Städtischen Galerie im Lenbachhaus unter der Maximilianstraße realisierte, trat er an uns mit dem Vorschlag, einen Bücherschrank in der Caféteria des Lenbachhauses auszustellen. Außergewöhnlich dabei war, dass der Bücherschrank nicht in erster Linie Bücher zum Lesen enthielt, sonder plastische Arbeiten in Buchform über marxistische Kunsttheorie, also Bild anstelle von Literatur, und dass die Aufstellung dieses Objektschrankes nicht im Ausstellungsraum des Museums vorgesehen war, sondern im Kommunikationsbereich zwischen Straße und Ausstellungsraum. Der Schrank, angefüllt mit Videobändern und zu skulpturalen Blöcken umgeformten Büchern, repräsentiert das versammelte, eingegossene Wissen: Bronze-, Acrylglas- und Gipsabgüsse von Büchern sowie Bände, zugenäht und in Filz eingewickelt oder mit Blech ummantelt. Diese „Bibliothek“ steht für gesammelte und gebildete Meinung und bildet einen strategischen Ort, von dem aus Stephan Huber Vorstöße in das bildnerische Feld startete. Die Benutzbarkeit der Bücher im Sinne von Lesbarkeit der einzelnen Information erscheint damit unbedeutend, da die Präsenz bestimmter Autoren und Titel für definierte Ansichten und Haltungen steht.
So zeigt die Bibliothek des Escorial, das intellektuelle Herzstück im Prototypus aller barocken Klöster, seine Bücher mit der Schnittstelle zum Betrachter. Da die Prachtbände an den Papierkanten goldüberzogen sind, wird der Betrachter der Bibliothek von der goldenen Aura gesammelten Wissens empfangen, kann sich darin aber nicht in gewohnter Weise orientieren.
Elias Canetti beschreibt in seinem Roman „Die Blendung“ eine ähnliche Strategie seines Helden, der seine geliebten Bücher dem fremden, unbefugten Zugriff dadurch zu entziehen sucht, indem er sie mit dem Rücken zur Wand einordnet. Huber setzt anstelle der Introvertiertheit auf eine Ausstrahlung, die sich durch den Ort und durch das Wissen über die vorgestellten Inhalte äußert.
Seine Installation, Der Künstler, der Sammler und das Museum. Das Mehl ... (S. 135) hat bereits im Konzept das Verhältnis von Abbildung und Wirklichkeit sowie den Ort der Kunst als Realität zum Inhalt. Entscheidendes Kriterium dabei war ein zur Installation gehöriges kleines Büchlein, von Stephan Huber selbst im Siebdruck erstellt, das den Besucher ausgehändigt wurde und in dem alle Gegenstände, die in der Installation nur schwarz/weiß zu sehen waren, in Farbe reproduziert erschienen. Stephan Huber notiert im November 1979 in einem Brief folgende Gedanken zu dieser Installation.
„Eine Arbeit sowohl über meine siebziger Jahre als auch über die siebziger Jahre in der Kunst. Eine Arbeit über die Reproduktion der Gedanken: Das Abbild der eigentlichen Realität (im Kopf) zeigt sich schwarz/weiß. Einzelne Abbilder dieses Abbildes tauchen nur wieder in Farbe auf (in dem Büchlein), welches der Beschauer als seine Teilwahrnehmung mitnehmen (besitzen) kann. Der Raum jedoch erscheint in dem Büchlein nicht in seiner Gesamtheit, sonder nur in seiner „Teilhaftigkeit“. Das Kunstwerk wird also zum Kunstwerk durch die Betrachtung, die sich vollends manifestiert in der Mitnahme des Büchleins. Zu den einzelnen „Gruppen“ in der Gesamtinstallation: Der Künstler (Das Zelt, die Fahne, die Lampe, die Fußspuren, der Gesamtraum) HOFFT AUF DIE VERSTEHBARKEIT UND GLAUBT AN DEN SELBSTZWECK.“
Abgesehen vom inhaltlich komplexen Thema der Arbeit sind auch die formalen Aspekte äußerst wichtig. Es wird in der Arbeit über das Wesen des Kunstwerks im sozialen Kontext reflektiert, aber auch über die Wirklichkeit des Ortes der Kunst. Es erhebt sich die Frage, wo die Kunst „aufgehoben“ ist. Bei allen Überlegungen Stephan Hubers zur plastischen Arbeit rangiert die Frage nach dem Ort vor der Materialität, wobei Ort, wie wir bei der Installation Das Mehl kennengelernt haben, nicht nur den real vorhandenen Raum meint, sondern bspw. auch das Buch als Ort der Abbildungen und Gedanken. Vorstellungen von Joseph Beuys, der einige Jahre zuvor an gleicher Stelle das große Environment Zeige Deine Wunde ausgestellt hatte und mit denen Stephan Huber sich intensiv beschäftigt hatte, werden in dieser Installation erkennbar.
Vor dem Aufbruch aus Lager I so der Titel einer Arbeit von Joseph Beuys von 1970/80 -vergegenwärtigt den Arbeitsraum eines Künstlers, der sich lehrend zu vermitteln suchte. Einige der dort gezeigten Objekte hatten in dem 1971 von Beuys gegründeten Büro „Organisation für direkte Demokratie“ bestimmte Funktionen inne.
Stephan Huber setzt in das Kunstforum eine 200 Quadratmeter große Insel aus einer etwas fünf Zentimeter dicke Mehlschicht, auf der merkwürdig fremdartige Gegenstände angesiedelt sind. Ein weiß gefliester Keil, darüber eine schematische Darstellung der physikalischen Definition von Leistung und Arbeit, weist hin auf das Zelt, der notdürftigen Unterkunft auf Reisen durch unwirtliche Gegenden. Kunsttransportkisten deuten die Verfrachtung von Kunstwerken als Arbeitsprodukte an.
Der Ort des Künstlers, seine Position, wird evident im Klassenzimmer des Ausstellungs- und Ateliergebäudes PS 1 in New York, 1980/81 (S. 128). Zwischen den Schultafeln mit den Aufschriften „Examination“ und „Exchange“ sowie dem Wort „Exit“, hängt in ausholender Pendelstellung ein Stuhl, der stellvertretend für den Künstler bei losgelassener Bewegung: die Angst nicht erfolgreich zu sein, die hoffnungslose Schleuder- und Schaukelbewegung und der klare Absturz, der vorprogrammiert erscheint. Der Ort ist spezifisch geprägt, ähnlich wie wir dies im Kunstforum gesehen hatten; dort mit ganz spezifisch historischem und sozialem Charakter entwickelt Stephan Huber die Frage, die sich am Ort und im vorhandenen Raum aufdrängt. Ort meint mehr als nur den konkreten Raum. Ort bezeichnet auch das übergreifende System, in dem sich der konkrete Raum befindet. Dass „Raum“ darüber hinaus noch etwas anderes bedeuten kann, wird in der Installation Fliegen und Ratten, 1981/82 evident, die aus zwei Teilen besteht. Der eine Teil, die Fliege, war an der Südfassade des Lenbachhauses zur Briennerstraße zu sehen. Ein Ateliertisch, von Stephan Huber um enorme Flügel erweitert, stak von der Wand wie eine fette Stubenfliege. Verstärkt durch das begleitende Wort „Fliegen“ erhielt das Ganze seinen doppelten Sinn. Der zweite Teil der Arbeit bestand aus einer großformatigen Postkarte, die eine Ratte zeigte, die auf ihrem Rücken einen rauchenden Fabrikschlot schleppt. Der zweite Ort der Arbeit war also ein bedruckter Karton. Ähnlich wie in Mehl, wo das Büchlein den gedanklichen Widerpart zur Ausstellungsinstallation gab, lieferte hier die Karte den Spiegel und die Ergänzung, so dass sich das Ganze als „Fliegen und Ratten“ liest. Damit reagierte Stephan Huber auf die Äußerung eines bekannten bayerischen Politikers, der kritische Künstler so tituliert hatte.
Im Westfälischen Kunstverein Münster zeigt Stephan Huber 1982 unter dem Titel Das Gottesreich fliegt: Der Kunstverein tanzt (S. 126) die drei Käfige der an der Sankt Lambertikirche hängenden Schaustücke mit dem Namen „Flügelbestückt“. Diese langen, zarten, transparenten Gitter und Flügel verleihen der Skulptur die Leichtigkeit insekten-, libellenartiger Wesen, die zart mit ihren Spitzen die Wände zu beiden Seiten des Raumes zu berühren scheinen. Diesen schwebenden Skulpturen antworten die Mauerbilder vor den Wänden, die durch leichte Vibration wie vom Erdbeben geschockt, das allzu sichere Gefühl einer Idylle irritieren. Wieder ist es der historische und in seiner bildlichen Präsenz vorhandene Ort, den Stephan Huber aufgreift, um mit gefundenen Versatzstücken eine aktuelle Geschichte in Gang zu setzen. Erinnert wird an die im Jahr 1535 zu Tode gefolterten Wiedertäufer. Huber ging es darum, ein weiterhin gültiges Bild von Intoleranz zu formulieren. Auch ohne die inhaltliche Konnotationen besticht diese Arbeit durch ihre formale Strenge, lebt aus dem Gegensatz zwischen den leicht schwebenden, transparent-gitterartigen Skulpturenelementen und den geschlossenen Wandmauertafeln. Stephan Huber antwortet auf ein fest im Stadtbild verankertes Bild den am Turm hängenden Erinnerungsstücken eines religiös formulierten Widerspruches mit einem Raumgebilde, das sich innerhalb einer relativ neutral gestalteten Halle bewegt. Es isoliert ein Phänomen aus dem Kontext eines historisch urbanen Gebildes und eröffnet durch Präzisierung einen neuen Blick, der nicht nur dem Werk und den immanenten Implikationen gilt, sondern letztlich auf das denkmalhafte Relikt selbst verweist.
Die Brücke im Hebbel-Theater in Berlin, 1983 (S.121) zusammen mit Eugenie Hinrichs realisiert, verdeutlicht den performancehaften Charakter mancher Arbeiten von Stephan Huber, die, aus dem prozessualen Gedanken heraus geboren, originäre Ortsbesetzungen sind. Auch die Schubkarrenarbeit (Arbeiten im Reichtum 3+9) von 1983/84 ist das Ergebnis einer prozessualen Handlung. Dennoch behauptet sich der Schubkarren gleich wo er aufgestellt wird im jeweiligen Raum und verwandelt diesen in ein „Gehäuse“ für die Skulptur, was nicht allein daher rührt, dass Licht von der Skulptur ausstrahlt. Es ist vielmehr die Präsenz des
Alltäglichen im musealen Kontext, durch die sich eigentümliche Ortsbezüge ergeben.
Im Hebbel-Theater hingegen geht es um einen sehr spezifischen Ort. Dort spannt Stephan Huber in schwindelnder Höhe eine Brücke über das Parkett des Zuschauerraumes, ausgehend von einfach konstruierten Pylonen zu beiden Seiten der Empore. Durch langsames Vorschieben seilverspannter Brückenelemente entsteht ein fragiler Steg in roter Farbe, ein fliegender roter Teppich, der sich über den Zuschauern zieht; ein Drahtseilakt, die Skulptur einer Erinnerung an spannende wie nervenzehrende Arbeit in und am Theater. Letztlich bleibt entscheidend, dass die Brücke nicht vollkommen geschlossen wird, sondern zwei Annäherungspunkte entstehen, die Luft und Zwischenraum lassen, damit die Funke überspringen kann; ein bildhauerischer Griff, der bereits am berühmten Dornauszieher, einer etruskischen Skulptur des kapitolinischen Museums, zu beobachten ist. Im Unterschied zu den späteren römischen Repliken hat der ursprüngliche Dornauszieher nicht wirklich einen Dorn zwischen den greifenden Fingerspitzen, sondern eine kleine Leerstelle, in die der Betrachter den feinen Dorn “hineinsehen“ kann.
Im selben Jahr realisiert Stephan Huber im Lenbachhaus eine Arbeit mit dem Titel Ich liebe dich (S.124), in der ein von kleinen Propellern angetriebener Kronleuchter über einer Stuckrosette hin- und herpendelt, die die Bodenmitte ziert, während eine Wand altes Eichenparkett aus dem Lenbachhaus trägt. Auf diesem Wandboden ragt in den Raum ein alter Fauteuil, während auf dem auf den Kopf gestellten Deckenboden ein Charles-Eames-Sessel Platz findet. Im Dialog zwischen den beiden Stühlen, die zugleich Mann und Frau sowie 19. und 20. Jahrhundert repräsentieren, entspinnt sich ein Dialog über die gegenseitigen Defizite und Leistungen. Aus dem zitternden Wackeln der Wände von Münster und dem Schweben der Käfiggitter ist ein sausender Kronleuchter geworden, der den agitierenden Dialog zwischen den Geschlechtern und den so unterschiedlich orientierten Jahrhunderten begleitet. Die Zeiten und Orientierungen aus dem Lot zu nehmen, das Oben nach Unten, das Waagrechte ins Senkrechte zu kippen, ist das Kriterium dieser Arbeit, wobei in dem aus der Wand ragenden Sessel eine Weiterformulierung der Idee aus Fliegen und Ratten zu beobachten ist. Altes, in den Kellerräumen des Hauses gestapeltes Parkett mit ins Holz genarbten Spuren von Geschichte, bildet den Ausgangspunkt dieser Arbeit. Hierin ist es dem Münsteraner Ensemble gedanklich verwandt, allerdings insofern verändert, als eine ganz neue Geschichte erzählt wird. Natürlich ist es auch der Dialog zwischen dem 19. Jahrhundert in Gestalt Lenbachs und der nachindustriellen Gesellschaft.
Der Text dieses Dialoges, der durch den Wechsel der Beleuchtung verstärkt und akzentuiert wird, beinhaltet ein Element des Theaters. Er bringt die Form der Inszenierung in die Arbeit. Ich liebe Dich ist ein Theaterstück, das keine Anwesenheit von Schauspielern erfordert und sich permanent fortsetzt. Der Betrachter, dieser Bühne ausgesetzt, wird in den Zeitablauf des Stückes einbezogen. Veränderung, Wandlung ist nicht nur in der Kippung und Verlagerung gewohnter Erfahrungen zu beobachten, sondern gerade auch im gesprochenen Text.
Das Parkett an der Wand ist Bild eines historischen Ambientes geworden, wie einst auch aus dem musivischen Werk kleiner Steinchen im Bodenbereich des römischen Hauses das goldglänzende sakrale Mosaik in die Apsis byzantinische Kirchen emporstieg und damit zum Träger sakraler Bilder wurde.
Die Verschränkung von Bildelementen aus unterschiedlichen Epochen entspricht barocker Tradition. So haben die Gebrüder Asam im 18. Jahrhundert für einen Altar von St. Peter in München eine Skulptur Erasmus Grassers von 1500 wieder verwendet. In der Nähe des Pantheon in Rom steht eine Skulptur des Gian Lorenz Bernini. Sie stellt einen Elefanten dar, der auf seinem Rücken einen ägyptischen Obelisken trägt. Bernini benützt für seine Arbeit ein uraltes Zeichen, den ägyptischen Obelisk, und für den Elefanten eine Zeichnung von Raffael als Vorbild.
Die Kombination der getrennt existierenden Elemente zu einem signifikanten Bild entspricht der Vorstellung von Akkumulation. Diese barocke Auffassung der Verknüpfung unterschiedlicher Bildstränge zu einem theaterhaften Gesamtklang fasziniert Stephan Huber ebenso, wie der Hang zum Prachtvollen, ja zur Pathosformel, wie sie im Barock verwendet wurde.
Wie schon angedeutet, entwickelt Stephan Huber in Ich liebe Dich erstmals eine Arbeit mit einem Kronleuchter. In der Serie der Arbeiten im Reichtum kommt er zu sehr unterschiedlichen Lösungen. Es ist eine Performance ohne die Anwesenheit des Performers, und es ist eine In situ-Arbeit, die Archäologie und Rekonstruktion beinhaltet. Auch der Parkettboden wird in der Folge in unterschiedlichen Varianten bearbeitet, so in Der Raum des Vaters (S.118) betitelten Installation im Bonner Kunstverein 1984, wo der zerbrochenen Idylle des 19. Jahrhunderts, einem gigantischen zerborstenen Porzellanteller mit einem aufgemalten Ludwig-Richter-Motiv, ein Raum mit einem aufgehobenen Parkettboden antwortet. Die zackig heraus gebrochene Form aus dem Fischgrätverbund, das Aufdecken des Darunterliegenden unter dem Parkett erscheint die Stuckdekoration einer Zimmerdecke hat durchaus Alptraumhaftes.
In der 1986 in der Villa Demidoff in Pratolino bei Florenz realisierten Arbeit Acta non verba (S. 116) sehen wir wieder den schwingenden Kronleuchter, von brummenden Propellern angetrieben, vor einer dekadenten Kulisse verfallender Wandbespannungen, während aus den Nebenräumen undeutliches Gemurmel einer nicht anwesenden Gesellschaft zu hören ist. Dem Parkettboden sind einzelne Riemen entnommen, so dass sich aus den Fehlstellen die Worte „acta non verba“ lesen lassen. Dieses Motto der Familie Demidoff kontrastiert natürlich zum einen mit dem undeutlichen Gerede im Hintergrund und ironisiert zum anderen die Behauptung „Taten, keine Worte“ angesichts eines Bildes weitgehenden Verfalls.
Stuckornamente und Parkett, Ausstattungsstandards nobler oder großbürgerlicher Wohnräume der Gründerzeit sind elementare Versatzstücke in der Arbeit von Stephan Huber in den achtziger Jahren. Rote Sonnen, 1985 in der Galerie Rosenberg in Zürich realisiert, entwickelt das Sonnenmotiv aus den Stuckrosetten zum Thema des Tagesverlaufs, während eine im Raum stehende Skulptur aus blockartigen Quadern mit silbernen Puttenköpfen, die an die Ausstattung der Amalienburg erinnern könnten, ein kontrastierendes Gegengewicht zu der Opulenz der Raumausstattung bildet. Unter dem gleichen Titel (S. 109) zeigt Stephan Huber im Kunstraum München 1986 in 10 Aufführungen wiederum das Stucksonnenmotiv in Verbindung mit einer schauspielerischen Präsenz. Ein unbeweglich sitzender Mensch übernimmt die Funktion der skulpturalen Setzung im Raum. Auf seinem schwarzen Anzug trägt er die Signets bekannter Luxusfirmen, ein Lautsprecher verbreitet einen Text.
Der Schauspieler verharrt bewegungslos auf einem Podest, während in einem anderen Raum Skelette den Parkettboden lösen und die Erde öffnen (wie wir dies in den Darstellungen des Jüngsten Gerichts bei der Öffnung des Grabes sahen). Von Raum zu Raum sind die Wände, an denen Sonnen aus Stuckrosetten aufstiegen in immer intensiveres Rot getaucht. Die starke rote Farbe unterstreicht den Charakter des Sonnenaufgangs, allerdings als ein Spiel revolutionärer Symbolik. Stephan Huber mischt unterschiedliche Assoziationsfelder: Bürgerlichkeit (Stuck und Luxusartikel) mit sozialistischen Formen (Rote Wand und aufsteigende Treppe). Die Verschränkung der gegensätzlichen Sensationen tendiert nicht auf Harmonierung, sondern lebt von der Sprengkraft, die zwischen ihnen besteht.
Im gleichen Jahr noch zeigt Stephan Huber in der Galerie Dany Keller unter dem Titel Das Ende der Kindheit teils vor einem roten Wandfeld, teils vor matt schimmernden, silbernen Metallplatten, ein auf einer Konsole sitzendes Gerippe, das sich mit zwei Rundschilden schützt. Es ist eine pathetische Formel zum Thema „Memento mori“, aber auch ein Reflex auf die berühmte Aigineten-Gruppe: Krieger, die sich sterbend unter ihren zertrümmerten Schilden zu schützen suchten.
Stephan Huber unternimmt in Rote Sonnen und Ende der Kindheit den Versuch, mit plastischen Mitteln Gedankenbilder aufzubauen. Dabei spielt nicht zuletzt das Moment der Zeit eine entscheidende Rolle. War es in den früheren Arbeiten wie Ich liebe dich oder Acta non verba das physische Bewegen eines plastischen Körpers im Raum, so ist an deren Stelle eine Performance, eine Aufführung getreten, beziehungsweise sitzt ein den Schauspieler vertretendes Skelett und Installation mit den Elementen von Theater und Malerei zu verschränken. Er lässt die unterschiedlichen bildnerischen Möglichkeiten aufeinanderstoßen, oft sich kontrastierend brechend, wie in der Arbeit Das Wunder von Petersburg kulminiert, 1985 gezeigt in den Magirushallen in Ulm. Aus den Disparaten der unterschiedlichen bildnerischen Elementen und ihrem fast pathetischen Ausdruck, der die Installation in die Nähe einer Bühne rückt, scheint sich bei Stephan Huber die Frage nach dem Ort seiner bildnerischen Arbeit zu offenbaren.
Eine inszenierte Situation, welche Stephan Huber in der alten Werkhalle schuf, stellt vor der Schäbigkeit einer verfallenen Industriehalle die Glorie der politischen Emanzipation der Arbeiterschaft als Theater zur Schau. Vor der stuckdekorierten Wand mit der filigranen geballten Faust die Putti wie Insekten umschwirren steht Lenins Schreibtisch. Der graue Bürostuhl über einem Empiremöbel und der Tisch aus gekippten Quadern werden gleichermaßen von Wagenhebern auf Rädern und von versilberten Putti in labilem Gleichgewicht gehalten.
Dieser Ort geistiger Arbeit vereint Motive unterschiedlicher Zeiten und Imaginationen; er ist ausgerichtet auf ein Denkmal der Arbeit. Eine schwarze Säule wird von Arbeiterfiguren aus Gips getragen und von einem Adler auf einer Kugel, dem Signum der Macht schlechthin, bekrönt. Durch die Beleuchtung wirft die Macht ihre Schatten auf die geballte Faust an der Wand. Das Kunstwerk schlüpft in die Form permanenten Theaters.
In dem gescheiterten Projekt Blaue Säule Orangerie Kassel, dem beauftragten Entwurf für die documenta VIII, der auf Wunsch des Künstlers letztendlich doch nicht zur Ausführung gelangte, konzentrierte sich Stephan Huber vollständig auf das plastische Denkmal als den von ihm zu behandelnden Teil, sieht aber von Anfang an die hochragende Stele - gebildet aus blauen Werkzeugkisten und bekrönt von einem „sozialistischen“ Handschlag in Relation zur barocken Kulisse. Indem er die hochragende blaue Figur vor dem gelbweißen Hintergrund der Orangerie in Kassel sieht, entschließt er sich, die Farben in bewusster Kontrastierung zu wählen, durch die angehäuften Motive wird ebenfalls der Widerspruch zur Fassade gesucht.
Auch wenn dieses Projekt gescheitert ist, weil Stephan Huber in seinen formalen Überlegungen zu keinem Ergebnis gelangte, das ihm gültig erschien, belegt es doch eine neue Qualität des Umgangs mit einer gegebenen Situation, die immer auch Auseinandersetzung mit dem Hintergrund und der historischen wie sozialen Dimension eines Ortes bedeutet.
So werden ein weiteres Mal Rote Sonnen 1987 (S. 106) in völlig neuer Form an der Zeche Zollverein in Essen realisiert, wo sie bis 1995 verblieben; diesmal als vierteilige Bildfolge aufgefasst, die über der Werksmauer in prachtvollem Mosaik gestaltet die Genese einer aufgehenden Sonne zeigt. Aus der Dämmerung in der frühen Morgenröte des industriellen Aufstiegs repräsentiert durch Zahnräder und technische Gussteile steigt die Sonne auf über rauchenden Fabrikschloten, schwimmt über bunten Badebällen, die die Arbeit in den Hintergrund drängen, gewinnt an Höhe, um schließlich voll über dem Thema der Wissenschaft, dargestellt durch Bücher, zu erstrahlen. Mit dem Höhepunkt wird durch ein gesprungenes, zerbrochenes Zahnrad die absehbare Dekadenz und das Zerfallen dieses mächtigen Industriekolosses angedeutet.
“Text wird eingesetzt.“ Mit diesen Worten schildert Huber sein Verständnis und seine Haltung zum Einsatz von Kunst in dieser besonderen Situation. Vor den „Kathedralen der Industrie“ zeigt er im Bildmedium der Kirche, dem Mosaik, seine Vorstellung vom Wandel der gesellschaftlichen Kondition.
Das Bewegende an dieser Arbeit wie an Altar/Cree, 1987 in der Hypo-Kunsthalle München gezeigt ist ihre erzählerisch anmutende Qualität, die sie ausschließlich an dem Ort, für den sie geschaffen wurde, entwickeln kann. Dennoch handelt es sich um Bildwerke, die auch losgelöst von diesen zwingenden Situationen ein eigenes komplexes, vieldeutiges Leben haben. Es sind In situ-Arbeiten, die sich aufgrund der immanenten Bedeutungsgeschichten mit dem jeweiligen Ort in anderer Weise überlagern. So ist Altar/Cree ein querlagernder, gestufter Aluminiumbalken, auf dem vorkragend auf mehreren Konsolwinkeln sich ein rotes Mosaikband in den Raum dehnt, auf dem wiederum in Schwarz das Wort „Geld“ zu lesen ist. Mit dem Glasmosaik werden Ravenna, Murano und Venedig zitiert, die byzantinische Welt, in der das Mosaik als essentieller Schmuck der Kirchen diente. Das Wort „Geld“ hat das Wort „Gott“ ersetzt. Es ist eine „Hommage“ an die oberste Gottheit unserer Zeit, das Geld. Formal ähnelt diese Arbeit Pionier-Architekturen der Moderne, den Kathedralen des Kommerzes, etwa dem Chrysler-Building in New York. So könnte diese Arbeit fast affirmativ wirken, verletzte sie nicht die stillschweigende Konvention, dass über Geld nicht gesprochen wird und hätte sie nicht ihren eigentümlichen Titel. Stephan Huber sieht einen Altar als Opferstelle, aber zugleich verbindet er damit die Mahnung der Cree-Indianer, dass, wenn der letzte Fisch gefangen ist, das Geld, das in den Banken gehortet wird, nicht gegessen werden kann. Das alte Midas-Thema taucht auf. Mit dieser Arbeit, unabhängig an welchem Platz sie gezeigt wird, entsteht ein Ort der Besinnung.
1989 werden in dem Denkmal für Else Lasker-Schüler unter dem Titel Meinwärts (S. 96) zwischen zwei parallel aufgestellten, schwarzen, hochrechteckigen Steinquadern zwei Mosaike eingesetzt, auf denen die Dichterin, sich selbst betrachtend, zu sehen ist. Der Besucher kann eine Position zwischen den Blicken der Künstlerin einnehmen, über die Sehnsüchte und nahen wie fernen Beziehungen der Künstlerin nachdenken. Er kann die Skulptur betreten, ist in ihr und schafft selbst den Ort der Begegnung. Es ist kein Denkmal, das sich aus der Situation heraushebt, sondern das sich auf die Ebene des Betrachters begibt. Gerade an dieser unmittelbaren Begegnungsebene ist Stephan Huber in dieser Zeit viel gelegen. Seine Cello-Skulpturen, die er in Essen 1986 im Stadtpark realisiert und dann in einer anderen Version für die Deutsche Bank Regensburg 1990 variierte, verbinden Denkmal und begehbare Figur miteinander. Daraus spricht eine antimonumentale Haltung, da die Skulptur sich an den Bedürfnissen der Menschen orientiert und ihnen nicht etwas „Ermahnendes, Monumentales“ vorstellt. Der ins Riesige vergrößerte Schaft eines Cellos steht wie eine Hermenstele in einer Parklandschaft, hebt sich farblich komplementär vom Grün des Rasens und des Laubes ab. Der Resonanzkörper, zweifach übereinander gelegt und gegeneinander gedreht, bildet sowohl den Sockel des Schaftes (der mit seiner Schnecke einen Kopf, mit seinem geschwungenen Lauf die Brust und Bauchpartie eines Menschen andeutet) als auch eine getreppte Bank, auf der sich die Besucher des Parkes niederlassen können.
Gemeinsam mit Raimund Kummer realisiert Huber 1991 in der Kunsthalle Hamburg eine Arbeit unter dem Titel Firmament (S. 88), in der schwere gusseiserne, sternförmige Körper auf dem Boden der Rotunde der Kunsthalle gezeigt werden, während über Metallkonstrukte gewölbte blaue Glasscheiben als Bruchstücke des Firmamentes in die Kuppel aufsteigen. Diese Arbeit hat ihre bleibende Position in einem U-Bahnschacht nächst der Kunsthalle gefunden. In diesem eher düsteren, melancholischen Raum wirken die skulpturalen Elemente wie Fragmente eines größeren, einst ganzen und einheitlichen Gebildes. Die Hamburger Arbeit ist ein Kontrapunkt zum hängenden Brunnen im Terminal A des Flughafens München, wo Stephan Huber unter dem Titel Die Alpen ein großes Mosaik in schwarz/weiß Steinen mit der Darstellung eines Gletschergipfels zeigt. Diese Bildtafel schwebt vor einer lichten Eisen-Glas-Architektur. Am unteren Rand des Gletschers hängt eine schräg nach vorne verlaufende blaue Glasplatte, über die Wasser in die Tiefe stürzt. Installationen wie Firmament (S. 88), Die Alpen (S. 81), Der Schrank (S. 63) und Nobile (S. 50) leben aus dem Zusammenspiel von plastischen oder bildhaften Elementen mit dem Raum. Während bei Firmament und den Alpen der plastische Zugriff und der Einsatz besonderer Materialien überwiegt, dominieren bei den Installationen Der Schrank und Nobile die bildhafte Erzählstruktur. In allen Fällen aber korrespondiert der Einsatz der Mittel mit der gegebenen räumlichen Situation, die nicht nur aufgrund ihrer architektonischen Dimensionen und Gestaltung geprägt ist, sondern auch von bestimmten Funktionen begleitet werden.
Neues Terrain betritt Stephan Huber mit der Installation als ich noch Waldbauernbub war, 1996, in der Galerie Six Friedrich in München, obschon er zum Teil Motive, die ihn seit längerem begleiten, wieder aufgreift. Unter anderem findet sich der überdimensional große Hut, der bereits in Arbeiten im Reichtum, 10 vorkommt, nun als raumbeherrschende, freischwebende Schirm- und Kuppelform, die sich dem Besucher des Raumes als Zentrum und Zufluchtsort anbietet und zugleich per Lautsprecher auf ihn einredet. Diese befremdliche Situation wird verstärkt durch Türen, die ins Nichts führen, beziehungsweise durch den Durchgang einer „normalen Türe“, deren Öffnung jedoch so winzig klein ist, dass das gesamte Proportions- und Raumgefüge ins Schwanken gerät. Die kleine Tür korrespondiert also mit dem riesigen Hut, beide zusammen erwecken Erinnerungen an Märchen und an die Schilderung Voltaires „Mikromegas“, in der die Größenrelationen sich auf einer fiktiven Reise durch das All nach der Größe der jeweiligen Planeten ändern.
Stephan Huber setzt auf eine Strategie, die er bereits 1983 mit der Schubkarrenarbeit initiierte, indem er zwei unzusammenhängende Elemente miteinander verbindet. Verstärkt wird die in der Skulptur angelegte Spannung durch die Aufstellung in der Galerie der Gegenwart Hamburg (S. 48), in jenem Kubenraum von Ungers, der so aufgeräumt, endgültig und perfekt sich darstellt, dass das abgestellte und „vergessene“ Gerät eine Irritation bewirkt. Stephan Huber kehrt zwar nicht zur Verwendung von „Ready-mades“ zurück, wohl aber zu scheinbar vorgefundenen Formen. Er begreift ganze Raumsituationen als Bildformen, wobei mit Raum nicht allein ein enger, in sich geschlossener Innenraum gemeint ist, sondern auch eine übergreifende bauliche Situation. Seine Roten Sonnen sind vor der Zeche Zollverein, über der begrenzenden Fabrikmauer platziert wie in einer Bildfindung Giorgio de Chiricos. An die Stelle des Sammelns gefundener Bildträger und deren sinnfälliges Verknüpfen zu Bildern und Objekten tritt bei ihm immer wieder das Kombinieren unterschiedlicher, sich gegenseitig fremder Bildelemente, die er selbst entwirft und gestaltet. So scheint es, als würde er dem „Lagerimkopf“, so sein Buchtitel von 1982, unmittelbar die Bestandteile seiner Werke entnehmen. Zuvor sucht Stephan Huber die Erinnerungsfragmente jeweils mit konkreten Fundstücken zu verbinden. Die gleichen bildnerischen Prinzipien scheinen unverändert am Werk: die Verbindung von extremen, sich bekämpfenden Formen und Materialien, der Widerspruch der Hierarchie von Bild und Material, die Konfrontation, das Aufeinanderprallen an sich fremder Bildfragmente. Doch zögern wir bei Stephan Huber die Bezeichnung Fragment zu verwenden, denn es sind keine Bruchstücke, aus denen Stephan Huber seine Bilder baut. Vielmehr scheint die geniale Wortschöpfung Luthers zuzutreffen, wenn er im Korintherbrief eine Stelle mit „denn unser Wissen ist Stückwerk“ übersetzt. Stephan Huber operiert nicht mit Trümmern, Überbleibseln, Brocken, Torsi oder Bruchstücken, sondern mit Stückwerken von Bildern. In vielen seiner Installationen finden wir eine Bildvorstellung, die wir quasi als Zitat einer fertigen, bekannten Form begreifen, welche wir allerdings so nie gesehen haben. 1986 heißt es in dem Text, den Stephan Huber zu der Installation Rote Sonnen veröffentlicht: „Noch nie hatte ich Vergleichbares gesehen und dennoch schien mir alles bekannt und selbstverständlich.“
Verwandelt ist das Bekannte durch die Veränderung der Maße, durch den Wechsel der Materialien und durch den neuen Kontext, so dass das neue „Bild-Stück“ dem Vorbild weder im Gegenständlichen gleicht, noch eine Verwandtschaft durch das Material, in welchem es auftritt, zu erkennen geben muss. Ein T-Träger genormte, allseits bekannte Form aus Stahl kann bei ihm aus feinstem Furnierholz gebildet sein. Industrieprodukte werden gebaut wie Barockmöbel. Die einzelnen Teile der Bildwerke haben nie Fragmentarisches an sich, der Eindruck zusammengesetzter Bruchstücke ist ihnen fremd. Hinter dem Fragment als Bruchstück steht ja die Vorstellung eines ganzen, geschlossenen Bildes.
Stephan Huber spekuliert keinesfalls mit der romantischen Liebe nach der Schönheit des Zufälligen, des Geborstenen, des Torso und des Zerfallenen, sondern stellt diesen die klare und entschiedene Setzung einzelner Stücke eines Bildes entgegen. Dabei geht Stephan Huber nach dem Prinzip des Schnittes vor, dem Klarheit, Härte, Genauigkeit und Überlegenheit zukommen. Die Zäsuren wirken nie zufällig, beiläufig, „natürlich“ vollzogen, sondern entsprechen immer einer raschen, bewussten Trennung, einem chirurgischen Eingriff. Der Schnitt gehört zu den zentralen Metaphern und Kunstgriffen der bildenden Kunst unseres Jahrhunderts, er entspricht einer operativen Wunde. In Bunuels und Dalís „Der andalusische Hund“ öffnet der Schnitt durch das Auge den Blick für eine Welt hinter der Realität. Lucio Fontanas Schnitt durch die Leinwand entspricht einer demonstrativen Auflösung der optischen Bildebene als Darstellungsort der Malerei und eröffnet den realen Raum vor wie hinter der Leinwand.
Zum Beginn der Industrialisierung war der antike mythologische Kosmos eine durchaus übliche Bildebene, die man sogar zur Darstellung industrieller Kräfte zitieren konnte.
Der Götterbote Hermes und die Eisenbahn waren noch miteinander verschwistert. Dies erscheint nur selbstverständlich, solange man an die Macht der Bilder glaubt. Dann wird man rasch erkennen, dass die Summe der Vorstellungen, die der Mensch zur Dechiffrierung der Welt zur Verfügung hat, limitiert ist, und dass er deshalb immer wieder zu den alten Topoi zurückkehrt.
Erst die Ironisierung der Bilder in der Kunst unseres Jahrhunderts hat zu ihrer weitgehenden Austauschbarkeit und Beliebigkeit geführt. Folgt man jedoch nicht der Inflation der Bilder und der Strategie der Austauschbarkeit, so wird man wieder auf festgelegte, bekannte und schließlich auch verständliche Bilder stoßen, denn diese dauern über den aktuellen Anlass ihrer „Entdeckung“.
Erwin Panofsky hat in seinem Aufsatz „The Ideological Antecedents of The Rolls-Royce Radiator“ (Proceedings of the American Philosophical Society 107, 1963, p. 273-288) bereits auf die Herleitung des Autokühlers bei Rolls Royce Automobilen von der klassischen Tempelfront hingewiesen.
Der von einer „Nike“ bekrönte Giebel eines Portikus dient als eindeutiges Symbol der Herrschaft und verkleidet eine technische Notwendigkeit mit einem Bild, das keinen unmittelbaren Bezug zu der Funktion aufnimmt. Anstelle einer inneren Bildnotwendigkeit trat eine verspielte Bildmöglichkeit von suggestiver Kraft. Huber greift diese Möglichkeit wieder auf, jedoch mit dem festen Willen, dadurch Orte sinnstiftender Natur zu schaffen. Deshalb tendiert seine Art des Verbindens und Verknüpfens auf klare Schnitte.
Dieses rationale Operieren innerhalb des bildnerischen Prozesses beinhaltet auch, dass der Künstler in ebensolcher Weise mit dem Ort seiner Skulptur umgeht. Der gegebene Raum wird zur Bildfolie, vor deren Hintergrund sich die Qualität des Werkes entfaltet, bis sie unlösbar darin verwoben ist.
Selbst in der großen Arbeit Gran Paradiso, die Stephan Huber 1997 für die neue Messe in München realisierte (S. 35), wird die Signifikanz des Werkes durch die Topologie des Aufstellungsortes verschärft. In einem riesigen Regal werden etwa 40 Alpengipfel nachgebildet, gegossen in einem weißen Kunststein, leuchten sie vor dem Hintergrund der fernen Alpenkette, die bei entsprechender Wetterlage in optisch ähnlicher Größe in der Ferne im Föhnlicht aufblitzt. Die fünf Alpenländer sind hier vertreten mit ihren schönsten Berggipfeln, die als Ware im Regal angeboten werden, vor einer Messe, deren Ziel es ist, Warenaustausch zu fördern. Auf der anderen Seite leuchten in einer etwa fünf Meter hohen und fünfzehn Meter langen Vitrine Glasscheiben die zwölf großen Alpenflüsse mit ihren Seen. Sie werden ebenso zur Schau dargeboten wie ihre Brüder, die Berge. Vor der Messe stehen in Regalen und Vitrinen Dinge, die in Realität auf der Messe nicht verhandelt werden können. Berge wie Gewässer sind zwar durch Tourismus und andere kommerzielle Nutzung längst aus mythischer Höhe herabgeholt und zur Ware geworden, entziehen sich aber der Benutzbarkeit im Sinne tauschbarer und reproduzierbarer Waren.
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