Stephan Huber

„Die Alpen“

Der hängende Brunnen
Flughafen München, Terminal A

Wir bewegen uns zunehmend in ortlosen Welten. Die Erkennbarkeit von Orten hängt wesentlich von ihrer individuellen Ausprägung ab. Sie wiederum ist – sieht man von natürlichen Gegebenheiten ab – Resultat von Geschichten, die sich an regionalen Traditionen und lokalen Entwicklungen spezifisch bricht. Regional Unterschiede werden durch die sich Bahn schaffende technologische und ökonomisch bedingte Weltkultur mehr und mehr nivelliert. Andy Warhols Bemerkung etwa: „In Stockholm gibt es McDonalds. In Florenz gibt es McDonalds. In Tokyo gibt es McDonalds. Nur Peking und Moskau haben noch nichts Schönes.“ ist heute bereits durch die Einrichtung entsprechender Filialen überholt. In der Architektur trug der sogenannte „internationale Stil“ zur Angleichung der Städte bei. Als Gegenreaktion wird spätestens in den siebziger Jahren in programmatischen Postmodernismus die Rückkehr zur individuellen Erkennbarkeit, das bedeutet die bewusste Einbeziehung von Geschichte gefordert. Die zur selben Zeit einsetzende Regionalismusdebatte weit über die Architektur hinaus. Der Regionalismus, so sehr er inzwischen verfolgt wird vom schwarzen Schatten des finstersten Nationalismus, distanziert sich von nationaler Borniertheit und plädiert für die Aufrechtserhaltung regionaler Differenzen. Er lässt sich durchaus als Antiprogramm zur umfassenden Entortung verstehen. In seinen negativen Ausprägungen verkommt er zur Nostalgiefassade und zu geistigem Gartenzwergianismus. Sein Gelingen hängt davon ab, inwieweit er den unhintergehbaren Stand der gegenwärtigen Entwicklung berücksichtigt und fähig ist sich mit der Position der fortgeschrittenen Moderne zu arrangiern.

In einem Kommentar zum Modell seines Bild-Relief-Skulptur-Brunnens „Die Alpen“ bekennt sich Stephan Huber ausdrücklich zum Regionalismus. – Stephan Huber wurde 1952 im Allgäu geboren. Er beteiligte sich an bedeutenden nationalen und internationalen Ausstellungen. In einer Reihe von Arbeiten befasste er sich auch mit der Außenskulptur. – Das Bekenntnis zum Regionalismus bedeutet auf den Brunnen bezogen: er bezeichnet den Ort, er versucht die Wo-bin-ich-Frage topographisch und – wenn man so möchte – kulturhistorisch zu beantworten.
Ins Individuelle gekehrt findet sich der Verweis auf die Herkunft bereits in früheren Arbeiten Hubers etwas als Auseinandersetzung mit der Kindheit. Andere Motive, die in die hängende Brunnenskulptur hereinspielen, sind das Fliegen oder überhaupt das Verhältnis von Skulptur und Bewegung. So platziert Huber Skulpturen und Tableaus immer wieder auf fahrbaren Untersätzen. Als ob sie der Anforderung permanenter Mobilität gehorchten, werden sie dadurch zu transportablen Zeichen, die sich, je nach Bedarf, an verschiedenen Orten einsetzen lassen. Mehr noch: Der Sockel, gewöhnlich das statische Element, das die Skulptur verankert und verortet, erzeugt, mobil geworden, eine eigenständige Umgebung, die die bewegliche Skulptur wir im Schlepptau mit sich zu führen im Stande scheint, so als sei nun auch der Ort, an dem sich die Skulptur gewöhnlich befindet, als Versatzstück transportabel. Dabei werden die meist luxurierenden Skulpturen, die wie Monumente auf die Ewigkeit zielen, ironisch mit der Tatsache ihrer Zeitlichkeit, das heißt hier: ihrer Beweglichkeit konfroniert.

Was die Ortserzeugung des hängenden Brunnens anbelangt: Das Bergmotiv mit Wasserfall weist auf die Lage Flughafens am Rande der Alpen. Die topographische Anspielung versucht im Nirwana der Ortlosigkeit zu stiften. Die Berggipfel bleiben zwar Bild doch unterscheidet sich dessen Sinnfälligkeit von den abstrakten Zeichen, von den Buchstaben und Zahlen, die den Reisenden durch das Flughafengebäude leiten.

Was die kulturhistorische Dimension des Brunnens anbelangt: Stephan Huber bezieht sich ausführlich auf den Barock. Zu den hervorstechendsten Architekturen des bayerischen Alpenvorlandes gehört neben dem fantastischen Historismus Ludwigs II. die barocke Architektur. Hubers Verweis auf den Barock mag zuerst verwundern, denn im Verzicht auf ausuferndes Beiwerk verweigert sich der hängende Brunnen jeder Art schwülstiger Rhetorik. Unkaschiert, kühl und sachlich dominiert die Konstruktion. Die Bändigung des Wassers und der Umgebung mit der hängenden Masse besticht durch die Ökonomie der Konstruktion. Die hängenden Teile wiegen 1,5 Tonnen und scheinen doch zu schweben. Offensichtlich steht der Brunnen der konstruktivistischen und funktionalistischen Sprache der Flughafenarchitektur näher als barocker Überschwenglichkeit. Und doch lässt sich, nicht nur was die dekorative Sinnfälligkeit des hängenden Brunnens anbelangt, eine Beziehung zum Barock herstellen. Die Kontinuität des Barocken zeigt sich in einer letztlich unbarocken technoiden Form. Sie rührt am Prozess der Entortung und, im engen Zusammenhang damit, am Prozess der Illusionierung.
Die Rhetorik der Macht, welche die Künste im Barock entfalten, rankt sich um den zentralen Topos „Die Welt ist Schein“. Er findet in verschiedenen Metaphern seine Formulierung: Die Welt ist die Bühne. Die Welt ist Theater. Das ganze Leben ist nur ein Traum. In ihrer üppigen Sinnlichkeit zielt barocke Kunst auf die Verführung der Sinne, um im Spiel mit Täuschung die „Eitelkeit“ – sprich Hinfälligkeit und Vergänglichkeit – alles „Irdischen“ vorzuführen. Immer wieder versucht barocke Kunst, die Grenzen zwischen Sein und Schein zu verwischen. In der Architektur etwa werden die Übergänge zwischen realer Architektur und Scheinarchitektur möglichst unkenntlich gemacht, so dass es dem Auge schwerfällt die Illusionismen zu durchschauen. Bild, Relief, Skulptur und Architektur gehen fließend ineinander über. Barocke Kunst entfaltet einen Sog, der den Betrachter ins Spiel mit den Illusionen hineinreißt. Es dominiert die pathetische Zurschaustellung, die Inszenierung, das Theater.
Der theatrale Impetus und die Verwischung der Gattungsgrenzen finden sich auch bei Hubers Brunnen. Oder sollte man besser sagen Skulptur? Oder handelt es sich um eine Art von Trompe-l’oeil? Ein Bild hängt gewöhnlich an der Wand. Die klassische Skulptur steht im Raum. Brunnen sind meist Skulpturen oder Architekturen. Und nun: Ein hängender Brunnen?

Die drei Ebenen des Brunnens – sie sind auf die drei Geschosse der Flughafenarchitektur bezogen – entsprechen verschiedenen Darstellungs- bzw. Realitätsebenen:

1. Das Gebirgsbild: Es handelt sich um ein Mosaik. Der preziöse und etwas altertümelnde Duktus, der dem Mosaikhandwerk heute eignet, bricht sich an dem technoiden Verfahren der Aufrasterung, d.h. die Fotovorlage wurde mit Hilfe des Computers in 20 Grauwerte zerlegt. Mit seinen 280 000 Glassteinen, Pixeln gleichsam, ist das Mosaik glasgewordenes  Telebild.
2. Die schräg hängende, blaue Glasplatte wirkt wie ein abstraktes Relief. Sie ist Übergang von der zweiten in die dritte Dimension und Übergang von der Abbildung zur Wirklichkeit. D.h. die Glasplatte ist eine Glasplatte, aber auch Bild eines Abhanges, über den sich das Wasser ergießt, so, als ob der darüber im Bild dargestellte Schnee tatsächlich schmelzen würde.
3. Das dreidimensionale Auffangbecken: Es ist Becken und sonst nichts. Und doch deutet sich durch die erhöhte Rückseite eine Perspektive an, die dem Becken eine leicht illusionistische Tiefenwirkung verleiht.

Der hängende Brunnen erscheint wie ein Gebirgswasserfall. Dabei gibt die illusionistische Vergegenwärtigung ihre Konstruktion preis und zeigt die Bedingungen ihrer Inszenierung. Dies allerdings verhindert keineswegs den Realität suggerierenden Sog. Er wird bedingt durch das tatsächlich herunterstürzende Wasser, aber auch durch die körperliche Einbeziehung des Betrachters. Um das Gipfelbild zu sehen, blickt er wie vom Tal ins Gebirge, steil nach oben.
Von der Galerie aus schaut er wie von einer Aussichtskanzel auf das künstliche Naturschauspiel, auf eine „Theatermaschinerie“, deren zur Naturerhabenheit überredende Rhetorik er fast erläge, wäre da nicht doch die ironische Brechung durch die Konstruktion.
Der hängende Brunnen bezeichnet die Topographie des Flughafens am Rande der Alpen, er verortet den Ort. Er erzeugt aber auch entortend den eigenen Ort: Im Flughafengebäude steht der Betrachter gleichsam im Freien vor einem – wie sollte es im Zeitalter der Bewegung anders sein – „transportablen“ Wasserfall.

Heinz Schütz




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