Rede anlässlich des 175-Jahr Jubiläums im
Kunstverein Hannover am 11.03.2007

Der Berg an sich ist unkritisierbar, habe ich mal salopp in einem Interview gesagt, und ich habe auch vor, dies heute so zu belassen. So waren natürlich auch meine Biennaleberge in Venedig unkritisierbar, was ein Kurator namens Berg auch sah und im Sinne von Mao Tse Tung, dass ein fester Wille Berge versetzen kann, nach Hannover transferierte. So kam Stephans Berg zu Stephan Berg und dies klingt natürlich viel schöner als wenn er zu Tobias Berg gekommen wäre, der Name, der nach Aussage seiner Mutter beinahe den Vorzug vor Stephan erhalten hätte.

Dieses Namensspiel ist für die Kunst nur deshalb relevant, da der heilige Tobias der Patron gegen Augenleiden ist, und damit Patron für das Retinale im Duchampschen Sinne. Augenleiden ist neben kunsthistorischer Demenz die schwerste Krankheit in der Kunst: Sofortiges Augenleiden, eine Art okulare Depression, überfiel mich zu Beginn der 90er Jahren bei protestantischer politischer Korrektheit. Dies scheint es aber früher auch gegeben zu haben. Aus „Bürger und Bilder“, dem roten Buch zum 150-jährigen Jubiläum des Kunstvereins, habe ich entnommen, dass deshalb sogar das Rote Kreuz zwischen 1914 und 1918 einige Räume des Kunstvereins belegte. Noch früher muss es  noch schlimmer gewesen sein, ich vermute dies anhand der Liste der Jahresgaben. Ein Auszug:

1879 Gretchen am Weg von Prof. Liezen-Mayer

1880 Gretchen am Spinnrad, von Prof. Liezen-Mayer

1881 Gretchen und ihr Schwesterchen von Prof. Liezen-Mayer  

1882 Gretchens Kirchgang von Prof. Liezen-Mayer  

1883 Gretchen vor der Materdolorosa von Prof. Liezen-Mayer

1884 Gretchen im Garten von Prof. Liezen-Mayer

1885 Gretchen im Kerker von Prof. Liezen-Mayer

1886 dann endlich der Paradigmenwechsel: Schillers Glocke von Prof. Liezen-Mayer

Heute sind es eher die chronischen Augenallergien, wenn ich mittlerweile in fast allen Ausstellungsinstituten die gleichen unkomplexen Oberflächentexturen und Retroformen sehe. Heiliger Tobias rette mich vor kuratorischen rhomboiden Obsesssionen und durchdeklinierten Galerieprogrammen.

Stephan Tobias Berg ist auch in diesem Punkt  fast unkritisierbar, denn er zeigt in Hannover ein überraschendes, oft unerwartetes, selten kunstmarktaffines, immer auch an den Intellekt gebundenes Programm und füllt somit die einem Kunstverein zustehende Aufgabe, nämlich nervöse Neugier, wunderbar aus. Er untermauert diese Unabhängigkeit durch seine Aufsätze, die im Kunstdiskurs hervorstechen, da sie trotz intellektuellem Freeclimbing mit Thema und Sprache, Gefühle evozieren, und damit den wesentlichen Zugang zur Kunst verstärken.

Ich weiss, ich sollte nicht nur über Stephan Berg und Stephans Berg reden, sondern über 175 Jahre Kunstverein Hannover, über aufgeklärtes Bürgertum von damals bis heute. Über die Genese von der Erziehungsanstalt hin zur Versuchsanordnung. Eben ein kritisch-resümierender Festvortrag, der nicht wie meiner zentrifugal vagabundiert , sondern ein Vortrag mit einer seriösen Zentralidee und mit einem nachdenklichen Zitat am Schluss.
Dies werden sie jedoch erhalten.

In dem 175-Jahrjubiläum der Blaskapelle Niedersonthofen, also meiner ursprünglichen Heimat, war die Rede – ich bitte um Verzeihung - von der Bergschönheit , sie meinten definitiv den aus Fels, und dem damit einhergehenden Einfluss der Umgebung auf die Kraft der Musik, sowie dem Wettkampf der Nachbarschaftsblaskapellen zwischen Niedersonthofen und Grossholzleute um das volkstümlich Originäre. Auf den Wettkampf der Nachbarschafts-blaskapellen gehe ich nicht ein, da ich weder Mitglied im Kunstverein noch in der Kestnergesellschaft bin.

Wenn ich die erste Vorgabe der 175-Jahr-Jubiläumsrede der Blaskapelle Niedersonthofen nun über den Kunstverein lege, könnte man sagen: Der Kunstverein Hannover besticht durch die Schönheit der Räume und deren Einfluss auf die Präsentation der Kunst. Die Raumabfolge ist traditionell, repräsentativ, lichtdurchflutet, voll wunderbarem weichem Licht und noch entscheidender: es ist ein Rundgang, man verliert sich nicht in architektonischen Rhizomen.

Vorgegebene Rundgänge neigen immer zum Narrativen, und sei es nur die Formgeschichte innerhalb eines künstlerischen Werkes. Durchwanderte Raumabfolgen können aber auch

erzählerische Dramaturgien erzeugen, und das gefällt mir natürlich viel mehr - zum Beispiel Geschichten von 8,5 Zimmer -Wohnungen mit Blick auf die Berge, womit ich wieder bei Mao Tse Tung wäre. Ähnlich wie Mao Tse Tung neige ich bei Rundgängen zur revolutionären Militanz: Gegenläufiges Flanieren sollte sofort mit Strafvorträgen zu 175-Jahrfeiern belegt werden.

Als Mao Tse Tungs Aufsatz „ Strategie und Praxis“ mit besagter Bergeversetzenmetapher Anfang der 50 Jahre erschien fand, zeitgleich im Kunstverein Hannover die Ausstellung
„Das naive Bild der Welt“ statt. Rückblickend ist dies gar nicht mehr so antipodisch wie es damals schien. Heute arbeitet Stephan Berg in Hannover an Strategie und Praxis des Fiktionalen, und in China finden große Ausstellungen über naive Kunst statt. In Hannover gefakte Bildwelten als hinterfragendes Konzept, in China gefälschte Bilder aus ökonomischem Kalkül. Alles schließt sich: Die Kunstwelt ist kleiner, schneller und ähnlicher geworden, aber eindeutig auch dämlicher.

Nicht so im Kunstverein Hannover: dort ist sie meist kompliziert und konzeptuell geblieben, aber eben auch voller Bildlust und Opulenz. .Menschen, die mich kennen, wissen nun, dass ich mich jetzt ans Süddeutsche, ans Alpine ja fast an das Katholische nähere und damit zum zweistündigen Hauptteil, zur Zentralidee komme, den ich jedoch aus verantwortungs-bewussten Gründen sofort überspringe, weil sie alle a. sofort in den Süden ziehen würden, b. zum Katholizsmus übertreten würden und c. zu Bergsteigern würden. Sicherlich wird der KV Hannover trotz des badensisch, lustbetonten, bildgläubigen und katholischen getauften Kurators niemals Diözesanmuseum, aber ich konnte mir jetzt diese vier bergschen Eigenschaften in der Welt der megacoolen, ultrahippen und endvernetzten Kuratoren nicht verkneifen.

Ich bin der ältere Stephan und darf mich deshalb eher auf meinen Regionalismus besinnen:

In meinen neuen Arbeiten, wieder enger an Sprache gebunden, taucht  immer öfter – zum Schrecken meiner Galeristen - mein Allgäuer Dialekt auf: So in der aus gelben Scheunenbrettern gebauten Kiste, mit dem von meinen Nachbarbauern gesprochenen Zarathustratext von Nietzsche. Und Sie wissen ja alle, von wo dieser Mann herunterstieg.

“zarathustra isch alloi s Gebirg nagstiege und neamand isch ihm begegnet“

und etwas weiter:

“Damals hoscht du die Äsche auf der Berg trage, willscht du heit die Fuier

In d`Täler nahtrage?“

Obwohl ich natürlich noch ästhetische Feuer in die Täler, bzw. Ebenen tragen will, bin ich mir allerdings nicht sicher ob ich diesen Abstieg vom Berg, Stephan Berg als Aufstieg vermitteln könnte. Da ist er international doch kompatibler als ich. Ich kam vom Allgäu nach München, also ca.150 km, er immerhin von Freiburg nach Hannover, also viermal so weit. Interessant am Rande übrigens, und hier sehen Sie auch wie schwer man es mit Regionalismusprogrammen hat, dass beim Schreiben von Dialektzeilen im Windows-Wordprogramm ein wahres Inferno von rot unterstrichenen Fehlerzeichen den Monitor beschlägt und der ganze Schlamassel im auftauchenden Fenster „Brauchen sie Hilfe?“ gipfelt.

Endgültig  zurück zum Kunstverein. Und nun müssen wir von den Ebenen reden.

Die Ebenen des Geldes. Wir befinden uns in der monetären Kartografie des Flachlandes.

Und hier bewegen wir uns in dem Areal „Mit Schwund musst rechnen“ und gehen dann in die

Region: “Wie der jüngere Stephan den älteren Stephan beschissen hat“. In dieser Region gibt

es nämlich einen arkadischen Park, in dem die Statuten des Kunstvereins von 1832 Finlay-artig in Stein gemeisselt sind, so auch der Satz.: „Die Aufgabe des Kunstvereins ist es, die ausgestellten Arbeiten anzukaufen, und dem Lose nach an seine Mitglieder zu verteilen.“

Schlau wie er ist, der Berg, führte er mich immer wieder an diesem Arkadien vorbei, und als

Allgäuer habe ich leider  die Orientierung in den Ebenen verloren. Shit happens.

Die monetäre Kartografie des Flachlandes zeigt einen Kampfplatz gesellschaftlicher Ansprüche. Es sind ungemütliche Areale, in denen populistische Schaugefechte ausgetragen werden: Sozialförderung gegen Kulturförderung. Solch deformierte Pseudoalternativen entspringen dem kollektiven Hirn einer überökonomisierten Gesellschaft. Walnussgross was kulturelle Visionen betrifft, und elephantös im Renditedenken.

 Visionen sind an Geben und an Fordern geknüpft. Und geben ist nie genug und fordern ist immer zu wenig. Wir wollen alles, wir wollen Millionen und wir wollen noch mehr. Kulturelles Kapital ist  nicht aufrechenbar, schon gar nicht gegen symbolisches oder soziales. Wir sollten viel mehr Ansprüche formulieren, wir verkaufen unsere Ideen immer unter Wert. Alexander Kluge, Pina Bausch, Joseph Beuys, Blumfeld, Peter Stein  und und und haben Deutschland zu einem Energiefeld gemacht, nicht die S-Klasse,  Bausparprämien oder Exzenterschleifer.

Tauschen wir doch „Mein Haus, mein Pferd, meine Yacht“ gegen „unser Kunstverein, unsere Ausstellungen, unser Berg.“ Nur dies bezeichnet die Unterschiedenheit und den Eigensinn, die mitteilenswerte Erfahrung und die Unabhängigkeit. Wir müssen die Steine, die Felsen, die Berge in der Erbsensuppe der alles überziehenden Verwertbarkeitssucht sein.

In der 175-Jahrjubiläumrede der Blaskapelle Niedersonthofen wurde in typisch Allgäuer Klarheit der schöne Satz gesprochen: “ Die Musik ist, genau wie der Berg, einfach nur da, sie ist nicht erklärbar.“

Manfred Frank hat daraufhin diesen Satz in seinen Tübinger Vorlesungen „über den Stil in der Philosophie“ paradigmatisch umgeschrieben in:

„In der Kunst ist uns ein Formgebilde gegeben, dessen Sinnfülle von keinem möglichen Gedanken erlöst wird.“

Um dies anschauliche Präsenz werden zu lassen, brauchen wir das schönste Haus, den fähigsten Vorstand und die wunderbarsten Mitglieder, und natürlich den Berg, der an sich unkritisierbar ist. Hannover eben.

Dazu sollten wir uns gratulieren. Vielen Dank.


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