Stephan Berg

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Shit Happens   Zu Stephan Hubers Ausstellung im Kunstverein Hannover
 
Das Motiv, das Stephan Huber neben dem der Berge am meisten beschäftigt, ist das der Türen. Innerhalb eines Werks, das zentral mit der Verschränkung von Innen- und Außenraum und der Auslotung ihrer psychosozialen Ambivalenz zwischen Sicherung und Bedrohung arbeitet, kann das kaum überraschen. Schließlich sind Türen real wie symbolisch in erster Linie als Mediatoren zwischen dem Drinnen und dem Draußen zu begreifen. Die schlichten weiß gestrichenen Holztüren, die Huber dabei zumeist verwendet, markieren als sozialen Ort, auf den der Künstler seine Überlegungen bezieht, die bürgerliche Welt. Es ist eine Welt, zu der uns beispielsweise gepflegte Vorgärten und Einfamilienhäuser einfallen, eine Welt, die in ihrer historischen Entwicklung im Biedermeier das Glück im stillen Winkel fokussierte, in der die 1848er Revolution (schlussendlich vergeblich) mit dem Anspruch an die Öffentlichkeit trat, an der politischen Macht zu partizipieren und mittlerweile – Stichworte wie Cocooning oder »Schöner Wohnen« illustrieren das hinreichend – eine neue Variante des Rückzugs in das Private erprobt.
Die einfache, fast unscheinbare Normalität von Hubers Türen steht in auffälligem Gegensatz zu den spektakulären, überraschenden Dingen, die sich oft hinter ihnen verbergen. In der Ausstellung im Kunstverein Hannover, für die Huber ein großes Konvolut neuer Arbeiten entwickelt hat, wird man durch eine überlebensgroße Türe geleitet, muss sich dann durch eine kleine Türe zwängen, hinter der man sich in einem engen, mit Edelstahl ausgekleideten Gang wiederfindet, der an einen Aufzug erinnert und in Augenhöhe eine Glasvitrine enthält, in der wir ein großes synthetisches Herz schlagen sehen und hören (»Saussures Herz (Versorgungsraum)«, 2001). Wieder andere Türen sind wie Fenster in die Wände eingelassen. Wenn man sie öffnet, flammt eine Feuersbrunst auf, die ein Gebäude verzehrt. Eine Lawine zermalmt eine Almhütte, als wäre sie aus Streichhölzern, und eine Flutwelle reißt ein Haus mit sich (vergleiche »Shit Happens« 1-3, Videoprojektionen, 2001).
Manchmal passiert es auch, dass sich eine Türe in Hubers Welt überhaupt nicht öffnen lässt. Das ist ein merkwürdiger Moment, eine Pause, eine Antiklimax in diesem Szenario großer und kleiner Räume und ihren Türen, die – als Passagen – mitten im Drinnen in ein bedrohliches, menschen- und raumvernichtendes Draußen führen und sich gleichzeitig zu Innenräumen öffnen, die in sich gedreht wurden (»Ich liebe Dich«, 1983) oder aus nichts als aus verschieden großen Türen bestehen (»Lobby«, 2001). Wie alles im Werk Stephan Hubers ist auch die geschlossene Blindtüre sorgfältig kalkuliert. So wie die kleinen und großen Türen, vor denen wir einmal als Riesen, das andere Mal als Zwerge erscheinen, unwillkürlich Assoziationen zu Lewis Carrolls »Alice in Wonderland« wachrufen, die mehrfach mit Türen und deren Größe Probleme hat, ist auch die verschlossene Tür ein Motiv, das uns aus Märchen vertraut ist. Dabei wird der Reiz der geschlossenen Tür noch erheblich erhöht durch das in diesem Zusammenhang notorische Verbot, sie zu öffnen, das – selbstverständlich und in der Regel mit bösen Folgen – nie beachtet wird.

Das Horrorgenre, das in mehrfacher Hinsicht als eine Art pessimistische Fortschreibung des Märchens begriffen werden kann, hat dieses Motiv der geschlossenen, verbotenen Türe in unzähligen Variationen aufgegriffen, meist verknüpft mit der Idee eines auf unheimliche Art lebendigen, bösen Hauses. Stanley Kubrick, dem es bereits gelungen war, mit »2001 – A Space Odyssey« (1965-68) den bis heute komplexesten und gültigsten Science-Fiction-Film zu drehen, hat mit »Shining« (1980) auch den Standard für zukünftige Horrorfilme gesetzt und dabei insbesondere das Motiv des psychotischen Hauses, das mehr und mehr von seinen Bewohnern Besitz ergreift, bis es sie entweder getötet oder zu einem Teil seiner Struktur gemacht hat, brillant in Szene gesetzt. Auch in »Shining« spielt ein verschlossener Raum (ein Zimmer in dem gigantischen, verlassenen Overlook-Hotel im tief verschneiten Colorado) eine tragende Rolle, und auch hier wird, der Horrorlogik folgend, der Raum betreten, obwohl die Warnungen davor eindringlich genug waren.
Die aus Nachrichtensendungen entnommenen, zu Loops umgearbeiteten Videoprojektionen »Shit Happens« 1-3, die auf drei Räume der Ausstellung verteilt sind und jeweils durch fenstergroße, in die Wand eingelassene Türen von den Ausstellungsräumen abgetrennt wurden, spielen implizit mit diesem rituellen Verbot und der ihm eingeschriebenen Übertretung. Ihre absurde Positionierung in der Wand fordert dazu auf, ihr Dahinter zu erkunden. Öffnet man aber die jeweiligen Türen, schlagen dem Betrachter nicht nur Katastrophen entgegen, in dessen Mittelpunkt immer ein Haus steht, zusätzlich ist die Lautstärke auch so dramatisch gesteigert, dass man, kaum hat man die Tür geöffnet, sie auch schon wieder zuschlagen will. Ebenso wie der Ton über das Öffnen der Türen aktiviert wird, wird er auch durch das Schließen wieder beendet. Der Betrachter steht wieder vor einer stummen verschlossenen Türe, hinter der sich alles oder nichts abspielen könnte.
Die verbotene Tür spielt auch deswegen im Horrorgenre eine so große Rolle, weil erst durch das Verbot die Fallhöhe erreicht werden kann, von der aus die dann stets folgende erzkatholische Mechanik von Sünde (Überschreitung der Türschwelle) und Bestrafung (oft in Form von Tod) rituell in Gang gesetzt werden kann. In »Shining« wird das Überschreiten der Schwelle zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, in dem immer auch als fernes Echo der Sündenfall und die anschließende Vertreibung aus dem Paradies anklingt, dem mit hellseherischen Fähigkeiten ausgestatteten kleinen Jungen Danny dadurch erleichtert, dass die sonst immer geschlossene Türe auf einmal angelehnt ist.
Die angelehnte Türe ist sozusagen die beunruhigendste Variante unter den verschiedenen Möglichkeiten, in denen wir Türen begegnen können. Ohnehin Nahtstelle zwischen Innen und Außen, oder jedenfalls zwischen zwei unterschiedlichen Räumen und damit in sich schon eine Ambivalenzfigur, verkörpert sie in ihrem weder geschlossenen noch offenen Zustand sozusagen eine doppelte Ambivalenz. Ihr Inneres ist zugänglich, aber entzogen, und ihr Angelehntsein lässt keinen Schluss darauf zu, welches Signal von ihr eigentlich ausgeht: Einladung oder Warnung? Eine solche angelehnte Tür findet sich in Hubers »Lobby« (2001). In zwei Meter Höhe ist sie in einer Stellung fixiert, die einen Einblick in ein offenbar leeres und real nicht betretbares Zimmer bietet, dessen Parkettfußboden sich an der Decke befindet und uns damit nicht nur mit einem buchstäblich ver-rückten Raum, sondern auch in einem Vorgriff auf den verdrehten Raum in »Ich liebe Dich« konfrontiert.
In der Kriminalliteratur und dem Kriminalfilm wird diese Uneindeutigkeit der Türstellung zu einer dramatischen Eindeutigkeit begradigt. Die angelehnte Wohnungstür ist hier zumeist ein klares Zeichen für ein gewaltsames Eindringen, also für eine (Zer)Störung der privaten, intimen Ordnung. Damit ist eine weitere metaphorische Bedeutungsebene der Tür angesprochen, die eines Ordnungs-Garanten. Die Tür ist das Instrument, mit dem wir versuchen, das draußen lauernde Chaos auszuschließen.
Inzwischen, eigentlich spätestens mit Rimbauds berühmten Diktum, wonach Ich ein Anderer ist, leben wir mit der Erfahrung, dass auch die intimste Ordnung des eigenen Ichs und des sie repräsentierenden Privat-Raums keinesfalls vor dem Einbruch des Chaotischen, des nicht beherrschbaren Anderen gefeit ist. Im Gegenteil: Gerade das eigene Ich, das eigene Heim entpuppt sich, befördert wesentlich durch Freud und die Psychoanalyse, als der eigentliche Ort und Hort von Triebkräften, die erst verdrängt (hinter Türen weggeschlossen) werden, um dann als Verdrängtes umso machtvoller und böser wieder über uns hereinzubrechen. Damit wird die Tür zu einem Symbol für die Abdichtung des Ichs gegen das Draußen. Dies funktioniert aber schon deswegen nicht mehr richtig, weil das wahre Problem nicht außerhalb, sondern hinter der Tür im vermeintlich geschützten Bereich liegt.
Dieses Einsickern des Unsicheren in die vermeintliche Sicherheit des Privatimen lässt sich paradigmatisch an der 1983 entstandenen Arbeit »Ich liebe Dich« nachweisen. Geboten wird ein (groß)bürgerlicher Wohnkontext, in dem sich 19. und 20. Jahrhundert zu einem Panorama unaufhebbarer Entsicherung verbinden. Das Original-Parkett aus dem Lenbachhaus befindet sich ebenso wie ein Empire-Fauteuil an der Wand, die Stuckdecke klebt zusammen mit einem Charles-Eames-Stuhl auf dem Boden, und ein Kristallkronleuchter schwingt unaufhaltsam und torkelnd durch den unbewohnbaren und ganz zum Bild gewordenen Raum.
Auch die Fotofolge »Shining« nimmt direkt auf diese Thematik Bezug. Zu sehen ist ein gemütlich wirkendes, in blassem Gelbton eingefärbtes Einfamilienhaus (ein modifiziertes Modell des Elternhauses des Künstlers), das sich auf einer riesigen Eisscholle inmitten bizarrer Eisberge befindet, deren Ausdehnung im wabernden Eisnebel verschwimmt.
Das Haus in der Eiswüste ist ein deutlicher Verweis auf das völlig eingeschneite und somit von der Außenwelt abgeschnittene Overlook-Hotel in Stanley Kubricks Film »Shining«. Allein schon dadurch, dass Huber der Fotofolge den Filmtitel gibt, erscheint das heimelig wirkende Haus nicht als Alternative zu der menschenvernichtenden eisigen Umgebungs-Atmosphäre, sondern eher als Falle. Den Schutz, den es anzubieten scheint, so argwöhnen wir, wird es vermutlich in Wirklichkeit gar nicht leisten können bzw. wollen. Es ist weniger das Sehnsuchtsbild für eine erkaltete, nicht mehr revitalisierbare Erinnerung, eine modifizierte Paraphrase Caspar David Friedrichs »Eismeer«-Elegie über die endgültig gescheiterte Hoffnung. Es ist eher ein Bild für eine Verunsicherung, die draußen beginnt und innen noch lange nicht endet. Und es ist doch noch mehr, nämlich auch ein homerisches Gelächter über das selbst visuell und anspielungsreich in Gang gesetzte Interpretationsangebot. Im Ablauf der Bildfolge erkennt der Betrachter unschwer den Bühnenillusionismus des Geschehens. Bild für Bild bröckelt die Inszenierung, werden Trockeneis-Nebel, gipsbekleisterte Styropor-Eisberge und Haus als modellhafte Bühnenkonstruktion kenntlich, die überhaupt keinen Wert auf perfekte Täuschung legt, sondern ihren Mehrwert gerade aus dem Moment der Ent-Täuschung, der offensiven Vorführung des Konstruierten als Konstrukt zieht. Huber liebt Doppelbödigkeiten dieser Art. Sein gesamtes Werk lebt von dem Spiel mit der Illusion, von der Inszenierung von Situationen, die so überzeugend wirken, dass wir sie augenscheinlich als Realität anerkennen müssen und doch im gleichen Augenblick immer auch gezeigt bekommen, dass sie nie mehr sind als Potemkinsche Dörfer.

Neben den Türen spielen die Berge eine Hauptrolle in diesem theatrum mundi, das den barocken Hang zur Über-Inszenierung kalkuliert in seine Versuchsanordnungen einbaut. Mit den Bergen greift Huber ein Motiv auf, dem in der bildenden Kunst und der Literatur vor allem seit dem 18. Jahrhundert eine wichtige Bedeutung zukommt. In seinem Beitrag »Vom Gottesberg durchs Höllental ins Skiparadies« für den Textband zu unserer Ausstellung hat Peter B. Steiner die Entwicklung dieses Motivs ausführlich nachgezeichnet. Hier genügt es darauf hinzuweisen, dass Berge über viele Jahrhunderte nicht als ästhetische Erscheinungen wahrgenommen wurden, sondern allein als schrecklicher, menschenfeindlicher Gegensatz zur bewohnbaren, zivilisierten Welt. In Edmund Burkes »Theorie des Erhabenen« wird der Berg dann zum Kulminationspunkt eines Schönheitsbegriffs, der gerade auf dessen Menschenfeindlichkeit aufbaut. Die schneeig-weißen, unbetretbaren Gipfel strahlen eine eisige Schönheit aus, deren Kraft genau darin liegt, dass sie den Menschen nicht braucht, dass sie das völlig unabhängige Walten der von Gott geschaffenen Natur verdeutlicht.
Seitdem folgt die Darstellung der Berge einer doppelten Strategie: Sie feiert einen Begriff von Natur, deren Erhabenheit in ihrer Unabhängigkeit vom Menschen besteht. Und sie befriedet den Schrecken, der darin liegt, zum ästhetischen und damit konsumierbaren, beherrschbaren Bild. Noch in jedem heute neu erschlossenen spektakulären Skigebiet mit seinen euphemistisch »Aufstiegshilfen« genannten Transportschneisen in die felsigen Flanken der Berge steckt ein letzter Rest von dieser Paradoxie aus der Sehnsucht nach menschenloser Erhabenheit und deren Hintertreibung durch eine für möglichst große Massen nutzbare Erschließung. Hubers Umgang mit den Bergen macht sich diese Paradoxie genau zunutze. Die Berge, auf die er sich bezieht, können sowohl fiktiv sein (beispielsweise der Berg aus Steven Spielbergs »Close Encounter of the Third Kind«) wie auch topographisch präzise Nachbildungen realer Berggipfel. Als Gipsmodelle werden sie eben zu den beherrschbaren, ins Regal einsortierbaren ästhetischen Konstrukten, zu dem sie eine über Jahrhunderte entwickelte kulturelle und touristische Praxis gemacht hat. Ihre relative Größe zitiert eine verlorene Erhabenheit, ebenso wie das strahlende eisige Weiß undurchquerbarer Gletscherfelder im weißen Gips der Modelle ironisch als Parallel-Metapher zu dem Stuckornament wiederkehrt, das Huber für die auf den Boden gedrehte Decke von »Ich liebe Dich« verwendet hat. Eiger, Mönch und Jungfrau, die im großen Oberlichtsaal des Kunstvereins auf einem dreitürigen Unterbau in gut zwei Meter Höhe über dem Betrachter thronen, sind also das Modell eines Bildes der Natur, die selbst nur als Konstruktion erlebbar ist. Erhabenheit, so signalisiert der Künstler, verkörpert die Idee einer Absolutheit, die im Bild nur als Als Ob, als ironisches Zitat Wirklichkeit werden kann.
Diese Form der Brechung des Absoluten, der Relativierung des Reinen, findet sich durchgehend in Hubers Werk. Strukturell spiegelt sich darin immer auch die Auseinandersetzung des Künstlers mit den radikalen Absolutheitsforderungen der Moderne, vom russischen Suprematismus bis hin zum Minimalismus. Huber arbeitet dabei vielfach mit deren Prinzipien, beispielsweise Reduktion, Serialität, Addition, Ready Made etc., aber er bringt sie gleichzeitig in Kontakt mit ästhetischen Prinzipien wie Illusionismus, Narration, Psychologie, die zu den erstgenannten in strengem Gegensatz zu stehen scheinen, dafür aber stark auf den Surrealismus belgischer Prägung reflektieren. Je komplexer die einzelnen Werkelemente besetzt sind, umso größere ästhetische Kraft gewinnen sie für den Künstler. Erst als paradoxe Bedeutungszwitter werden die einzelnen Werke gültig. Das Gipsmodell von Eiger, Mönch und Jungfrau ist so gleichzeitig Referenz auf die regionale biographische Herkunft des Künstlers und damit Reflexion künstlerischer Verortung, scheinbare bruchlose mimetische Vergegenwärtigung, autonome Skulptur und deren Kritik und nicht zuletzt Illusionismus und ihre gleichzeitige Dekonstruktion.

Die Vermessung der Huberschen Welt folgt eben dieser Logik des Diskontinuierlichen, Differenten. Vierzehn dreiteilige Landkarten befinden sich in Vitrinen, die jeweils auf einem zylindrischen Stahlfuß stehen. Die körperliche, dichte Anordnung der Vitrinen schafft eine Labyrinthsituation, die dem Betrachter jegliche Übersicht verweigert. Ihre Präsentation zitiert einerseits die Stand-Fernseher der 50er Jahre, andererseits die Form dreiflügeliger Altäre. Die Karten selbst sind digital stark bearbeitete Lamda-Prints hochgenauer US-amerikanischer Militärkarten.
Diese Arbeit verschmilzt die höchstmögliche zeichenhafte Objektivität, die Landkarten versprechen, mit der kryptischen Subjektivität einer künstlerischen Kartographie, die in erster Linie daran interessiert ist, die eigenen mäandernden Assoziationsketten und Anregungshintergründe abzubilden. Nur auf den ersten Blick meint der Betrachter, der Welt, wie er sie kartographisch kennt, gegenüberzustehen, auf den zweiten Blick offenbaren sich ihm lauter Ungereimtheiten. Der Bodensee wie auch das Westallgäu, in dem es merkwürdigerweise nur Orte gibt, die mit Maria in Verbindung zu bringen sind, liegen auf einmal mitten in China, Inseln tragen den Namen von Romantiteln, ganze Länder und hybride Kontinente werden Thomas Pynchon, Arno Schmidt und Ludwig II. gewidmet. Konzentrationslager verblenden sich mit deutschen Städten, topographische Strukturen entpuppen sich als Kopf von E.T.A. Hoffmann, Inselgruppen werden zu Revieren neuerer Rockmusik, von den Dead Kennedys bis zu Portishead. Wir wandern vorbei an einer Karte der »Massaker«, einer Karte der »Literarischen Welten« oder einer Karte des »Firmaments« und entdecken überall letztendlich die Spuren des »masterminds« Huber, der mit dieser Arbeit wie mit seinem gesamten Werk wiederum gleichzeitig Welt- wie Selbstdeutung betreibt. Immer ist es dabei ein Blick der Hybridisierung, den Huber auf die Welt wirft. Im psychogenetischen Raum seines »mental mappings« verschmelzen literarische, soziale, politische und geographische Räume zu einem Hyper-Raum permanenter Differenzbildung.
Huber selbst nennt diese Arbeit »Das Labyrinth in meinem Kopf, dargestellt als Glanz und Elend des XX. Jahrhunderts anhand von Kartografie als Projekt im Fortgang« (2001). Der Titel macht deutlich, wie sehr der Künstler seine Arbeiten als Konkretion, als Materialisierung seiner Einflüsse und Denkbewegungen entwirft. Der Kopf des Künstlers ist das Raumlabyrinth, das wir kondensiert auf eine »7,5 Zi.-Whg.« real durchwandern und dabei jeweils auf Räume und Situationen stoßen, die in sich selbst wiederum das Entwicklungspotenzial tragen, im nächsten Augenblick schon wieder ganz anders beziehungsweise ganz woanders zu sein.
Der »Fortgang«, von dem Huber spricht, ist ein wesentliches Element des Werkes. Als kategorischer Imperativ schützt er jede Arbeit davor, statuarisch zu werden, gleichzeitig liefert er die Möglichkeit, bereits verwendete Arbeiten oder Werkteile wieder neu kombiniert oder erweitert zu verwenden. So stoßen wir zum Beispiel im Raum »Garderobe« auf die bereits 1983 entstandene Installation »Arbeiten im Reichtum, Nr. 7«, die einen überdimensionierten Filzhut zeigt, der auf mehreren eng aneinander gestellten Koffern und Werkzeugkästen liegt. Diese Arbeit verändert sich nicht nur durch die verschiedenen Raumkontexte, in denen sie ausgestellt wird. In Hannover beispielsweise steht sie im ersten Raum und wird so zum allegorischen Auftakt einer Reise, die der Besucher unternimmt, und gleichzeitig zur Vorankündigung für den Landkartenraum. Der Hut fungiert dabei als Ich-Metapher, als Stellvertreter für ein Individuum, in dem sich sowohl der Künstler wie auch der Betrachter spiegeln. Darüber hinaus ändert sich die Auswahl der Koffer und Behältnisse und wird jeweils partiell der aktuellen Situation angepasst. Ebenso geht Huber mit den Motiven der Berge und Türen um. Beide funktionieren wie Module, die sich in immer wieder neue, veränderte Zusammenhänge einspeisen lassen und dabei in ihrem metaphorischen Potenzial jeweils neu lesbar werden.
Was immer aber auch dabei passiert: Nie fügt sich der allegorische Reigen aus spektakulären und stillen, aus hochdramatischen und reduziert introvertierten Raumfolgen und Interventionen zur konsistent erzählbaren Geschichte. Wie in einem Puzzle, das partout nicht aufgehen will, bleiben stets einige Teile in das entstehende Gesamtbild nicht einfügbar. Die Störung erweist sich als wichtiger als die Kongruenz. Die zwei Hauptquellen, aus denen Huber seine begehbaren Bilder schöpft, das »Reservoir des Alltags« (Huber) und das aus dem Barock gespeiste Material einer allegorischen Bildsprachlichkeit, werden in seinen Werken in einer Weise synthetisiert, die jede Eindeutigkeit hintertreibt.
Während die Deutungsmöglichkeiten beispielsweise für barocke Allegorien aus heutiger Sicht kunsthistorisch präzise eruierbar sind, sich also der metaphorische Bedeutungsüberschuss stets kontrollieren lässt, benutzt Huber diese Topoi gerade, um sie erneut zu verunklären. Hubers Erzählungen vertrauen einer Bildsprache, deren metaphorischer Duktus bewusst so weit paradox aufgeladen wird, dass er genau die Grenze semantischer, psychologischer, kunsthistorischer und soziologischer Komplexität erreicht, an der er, ohne zu ex- oder implodieren, sich selbst als wandelnde Frage präsent hält. Der Zusammenstoß maximal voneinander entfernter Einzelteile erzeugt einen Funkenflug, in dem die Vorstellung einer einfach zu benennenden, kausal entwickelbaren Welt verbrennt, zugunsten des Leuchtens der Funken selbst.
Im letzten Raum stehen wir vor drei kleinen, sepiafarbenen Fotos (»Kirschblüte 1952«, 2001). Sie zeigen Hubers Elternhaus in Großaufnahme, aus mittlerer Distanz und zuletzt aus weit entfernter Vogelperspektive. Aus dem Schornstein steigt Rauch auf, und vor dem Haus blüht ein kleiner Kirschbaum in zartem Rosa. Das könnte ein Bild der Idylle sein, dem allerdings, wie in »Shining«, der Kontext widerspricht. Denn um das spitzgiebelige Haus breitet sich eine Kraterwüste aus. Vor dem Hintergrund der Ruinenfelder einer bombardierten deutschen Stadt, in die Huber sein Elternhaus digital eingebaut hat, erscheint die – vordergründig – heimattümelnde Kirschblütenidylle, die über ihren Titel zudem noch auf Hubers Geburtsdatum anspielt, als kitschig verblasene Wunschprojektion, ohne dass damit einem eindeutigen Pessimismus das Wort geredet wäre. Schließlich ließe sich ja nicht nur das Haus als Scheinkulisse vor einem real ruinösen Hintergrund begreifen, sondern umgekehrt auch die Bombenwüste als Kulissenalptraum vor einem intakten Idyll. Zuallerletzt, kurz vor dem Ausgang, werden wir an der Wand mit einer weiteren kleinen Türe in halber Höhe konfrontiert. Dem Betrachter, der sie öffnet, schlägt donnernd die Projektion einer Flutwelle entgegen, die ein ganzes Haus mit sich reißt ("Shit Happens 3", 2001). Eine Katastrophe, aber auch ein ungeheuer eindrucksvolles Bild. Schrecklich schön.